Barrierefreiheit im Internet oder wie man zwei UN-Resolutionen gegeneinander ausspielt

Im Kulturausschuss hat die Debatte über die Accessibility-Richtlinie der Kommission begonnen

Es gibt Gesetzesvorhaben der Kommission, die in die Digitale Binnenmarktstrategie eingreifen und trotzdem relativ unabhängig verhandelt werden. Dazu gehört die „Accessibility-Richtlinie“ (die Inhalte sind hier kurzgefasst zu finden). Die Kommission hat ihren Entwurf im Dezember vorgelegt. Der Binnemarkt- und Verbraucherschutzausschuss (IMCO) setzt sich mit diesen legislativen Vorschlägen auseinander.

Große Produktgruppen (Fernseher, Computer Lesegeräte) und vor allem Dienstleistungen, zu denen Filme, Serien, Musik und Romane gehören, werden von derartigen Richtlinien erfasst. Zu Recht, wie ich finde. Die UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen fordert die Herstellung von Barrierefreiheit in Wirtschaft und Gesellschaft, um Inklusion grundlegend realisierbar zu machen, also das Grundrecht der sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Teilhabe zu garantieren. 

Der Kulturausschuss wird sich zum Kommissionsvorschlag mit einer Stellungnahme verhalten. Den Entwurf dieser Stellungnahme erläuterte am vergangenen Montag, dem 30. Mai 2016, die Verfasserin Petra Kammerevert im Ausschuss. Sie riet ihren Ausschusskolleginnen und -kollegen, die Barrierefreiheit für Dienstleistungen, welche die Audiovisuellen Medien und e-Books betreffen, aus der Richtlinie auszuklammern. Sie seien deshalb als Ausnahme zu verstehen, weil Untertitelungen und Audiodeskriptionen beispielsweise die Filmproduktion verteuern, weshalb diese Auflagen die kulturelle Vielfalt „gefährden“ könnten.

Gleichzeitig stellte sie in Aussicht, dass bei der Überarbeitung der Audio-Visuellen Medienrichtlinie, die gerade im Rahmen der DSM-Strategie ansteht, dann der Ausgleich zwischen Barrierefreiheit und kultureller Vielfalt zu regeln wäre.

Das klingt erstmal logisch und wie eine eher technische Argumentation, denn für die Überarbeitung der Audio-visuellen Medienrichtlinie (AVMD) wurde gerade am 25. Mai 2016 der Startschuss gegeben. Doch die Maßnahmen für die Barrierefreiheit kultureller Erzeugnisse werden auch bei späterer Behandlung nicht billiger.

Es ist durchaus nachzuvollziehen, dass Kammervert in den Vorschlägen der Kommission Härten für die Film- und Verlagsbranche sieht. Doch dass ausgrechnet die kulturelle Vielfalt durch die Auflagen der Untertitelungen und Audiodeskription gefährdet ist, ist doch eine sehr gewagte These. Sicher können sich größere Firmen die Maßnahmen für ein barrierefreies Filmesehen und -hören einfacher leisten. Und sie würden bestimmt auch einen Weg finden, den Mehraufwand auf die KonsumtInnen umzulegen, sodass die Verteuerungen am Ende eher ein Problem der KäuferInnen als der Firmen wären.

Barrierefreiheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Doch sie gegen kulturelle Vielfalt auszuspielen, statt eine geeignete und ausreichende Förderung einzufordern, ist der falsche Weg. In einem anderen Zusammenhang wurde gerade im Kulturausschuss bemängelt, dass fehlende Mittel für die Sprachuntertitelung die kulturelle Vielfalt des Films in Europa behindern und hier endlich etwas geschehen muss! Im Bericht zum „Film im digitalen Zeitalter“ des konservativen Abgeordneten Bruno Wenta, diskutiert zu Jahresbeginn 2015, wurde dies deutlich moniert – und alle stimmten in die Kritik an dieser Fehlstelle ein

Derartige Praktiken und Regelungen nun bei der Barrierefreiheit plötzlich als besondere Härte zu skizzieren, ist ein inakzeptabler politscher Zugang. Um es zugespitzt zu formulieren: Was ist das für ein Menschenbild, wo aus kultureller Vielfalt die Rechte von Minderheiten ausgespart werden, weil deren Garantien etwas kosten? Das ist letztlich Mainstreamterror von Mehrheiten und damit schon im Ansatz das Gegenteil von kultureller Vielfalt, denn Inklusion ist ein Thema für alle und keine Nischen- und Identitätspolitik für Menschen mit Behinderungen.

Man muss nicht zwei UN-Resolutionen gegeneinander in einen vermeintlichen  Interessenkonflikt stellen, während sich die digitale (Kultur-)Wirtschaft händereibend im Dunkeln verschanzen kann. Gerade sie soll solch einen Regelungsvorschlag ernst nehmen und in den Ländern umsetzbar machen. Deshalb ist es sinnvoll, die politische Durchsetzung von Menschenrechten – sowohl der Inklusion als auch der Teilhabe an Kultureller Vielfalt – aus der Zone der Freiwilligkeitspolitik zu holen, die so gern mit der Subsidiarität als Floskel garniert wird, aber im Zeitalter der Austerität nur zu gern die Anmerkung „kann wegfallen“ erhält. Menschenrechte sind global und nicht subsidiär. Deshalb ist ein Regelungsvorschlag auch für Kulturproduktionen, die in den Bereich der Richtlinie für Audio-Visuelle Medien fallen, innerhalb der Barrierfreiheitsregelungen sinnvoll. Er ist sogar ein guter Anlass, das Finanzierungsproblem und den eventuellen Ausschluss kleiner Filmfirmen in der zu überarbeitenden Richtlinie für Audio-Visuelle Medien zu regeln und einmal mehr Verbindlichkeit für die Rahmenbedingungen kultureller Vielfalt herzustellen.

Nötig ist eine Debatte, ob und wie man Kleinstunternehmen zum Beispiel mit besonderen EU-Förderungen ausstatten könnte, um kulturell und sozial erforderliche Untertitelungen zu liefern. Immerhin sind das auch ein paar Arbeitsplätze mehr, sowohl bei der Technologieentwicklung, als auch bei der Ausführung. Damit wäre der kulturellen Vielfalt des Fiims im digitalen Zeitalter auch gedient.