„…Es ist ein Kampf gegen Flüchtlinge statt gegen die Ursachen der Flucht.“
Impulsreferat zum Status quo Europäischer Flüchtlingspolitik
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde,
mein Name ist Martina Michels, MEP, ich komme aus Deutschland und als Mitglied des Europaparlaments bin ich Mitglied in der Delegation EU-Türkei, die sich immer mehr auch mit der Europäischen Flüchtlingspolitik befasst. Emilia Tziva aus Griechenland und Hanna Sarkkinen aus Finnischen Parlament leiten diesen Nachmittag. Im Mittelpunkt unserer jetzigen Debatte steht die Europäische Flüchtlingspolitik. Ich wurde gebeten, einen Impuls für unsere Diskussion zu geben.
Ich werde das aus ganz konkreten Erfahrungen heraus tun, denn ich bin erst vorgestern von einer Vorwahlbeobachtung aus dem Südosten der Türkei zurückgekehrt. Was wir dort erlebt haben, liebe Genossinnen und Genossen, war beängstigend. Ein Land, in dem staatliche Willkür herrscht, wo die Demokratie und Menschenrechte ausgehebelt werden und die politische Opposition kriminalisiert wird. Verhaftungen, Bombenattentate – das alles geht auf das Konto der Erdogan-Regierung. Wir waren dort u.a. im Fidanlik-Flüchtlingscamp, ca. eine halbe Autostunde von der kurdischen Metropole Diyarbakir entfernt. die meisten Kundinnen und Kurden wohnen. Dort leben seit über einem Jahr zunächst 5000 und jetzt noch immer 3000 jesidische Flüchtlinge. Sie sind aus dem im Nordirak vor dem IS geflohen.
Diese Zeltstadt wurde in einem ehemaligen Ausflugsgebiet der Kommune (Yenisehir) errichtet. Es gibt offiziell keine Schule, lediglich selbstorganisierter Unterricht. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben nur eine medizinische Grundversorgung. Benutzung staatlicher Krankenhäuser überhalbe der Grundversorgung ist ihnen versagt. Sie wirken müde, verzweifelt, doch sie sagen es frei heraus: „Hier kommen so viele vorbei, aber es tut sich nichts. Wir fühlen uns auch hier in der Türkei nicht mehr sicher, sind im Stich gelassen.“ Für sieben Jahre haben sie den UN-Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen. Sieben Jahre dort ausharren, das kann sich kaum einer vorstellen. Die Jungen und diejenigen, die Geld haben, versuchen den riskanten Weg übers Meer mittels Schleusern oder über eigene Kontakte.
Immer wieder zeigen sie uns Bilder ihrer zerstörten Häuser, der getöteten, vermissten oder verletzten Verwandten. Es wächst die Angst, dass der IS oder Militär sie bis in die Türkei verfolgt, obwohl das Flüchtlingscamp zunächst erstmal Sicherheit bietet – Sicherheit, fernab von einem normalen Leben.
Genossinnen und Genossen, liebe Freunde,
Ein Journalist schrieb über die Flüchtenden im Budapester Bahnhof Keleti: Man geht in solche Situationen als Journalist – oder wie ich sagen würde – als Politikerin hinein und kommt als Mensch wieder heraus. Doch, ich sage es ganz ehrlich: alle Empathie ist sinnlos, wenn wir als Linke nicht zu klaren politischen Forderungen zurückkehren und sie mit Vehemenz vertreten. Dieser Aussichtslosigkeit in den Flüchtlingscamps steht die traurige Gewissheit gegenüber, dass die EU-Flüchtlingspolitik, so wie sie derzeit von den Regierenden betrieben wird, zum Scheitern verurteilt ist.
Die EU hat mit ihrem Deal in den Türkeiverhandlungen, die Türkei zum neuen strategischen Schlüsselpartner ihrer Flüchtlingspolitik erklärt. Und dabei zücken sie doch nur ein Scheckbuch, damit die 2 Millionen Flüchtlinge, die heute schon in der Türkei leben, nicht nach Europa weiter reisen. Solch ein Plan – wie er gestern öffentlich wurde – wird die Probleme eher verschärfen statt sie zu lösen.
Bei der Türkei wird, wenn es um schnelle Lösungen in der Europäischen Flüchtlingspolitik geht, diplomatisch Kreide gefressen. Angesichts der entsetzlichen Anschläge in Ankara wird kondoliert und appelliert, doch klare Forderungen an Erdogan – zum Stopp der Menschenrechtsverletzungen gegen die Kurden, zur Wiederherstellung der Demokratie, der Medienfreiheit – die sind in den Verhandlungen zwischen EU und der Türkei weitgehend ausgeklammert. Erdogan wird förmlich hofiert, nur damit er Flüchtlinge zurücknimmt oder an der Ausreise hindert. Dabei, liebe Genossinnen und Genossen, setzen die Menschen dort vor Ort auf uns, auf die EU, die in ihren Augen die letzte Hoffnung darstellt,
Abschottung und Abschiebung, Pufferzonen und Hotspots, Registrierung und Wiederabschiebung in angeblich sichere Drittstaaten sind das Gegenteil einer humanen Flüchtlingspolitik. All das wird Niemanden davon abhalten, aus unmenschlichen Verhältnissen wenigsten den Versuch eines Ausbruchs zu wagen. Deshalb bleibt die Bekämpfung der Fluchtursachen und die derzeitige akute Forderung nach legaler und sicherer Einreise nach Europa das Gebot der Stunde.
Doch was bietet die reiche EU bisher? In zunehmendem Maße stehen die Länder, aus denen wir kommen, vor schwierigen Aufgaben. Es fängt mit der Frage an, welche Länder in der EU welche Belastungen zu tragen haben.
Italien und Griechenland sind als die Länder, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen, anders gefordert, als z.B. die ost- und nordeuropäischen Staaten. Eine große Anzahl von Flüchtlingen ist über Österreich nach Deutschland gereist. Das alles stellt hohe Anforderungen an die Solidarität innerhalb der EU. Namentlich Regierungen osteuropäischer Mitgliedsländer verweigern diese aber.
Die EU-Länder haben nach dem Flüchtlingsgipfel versprochenen 1,8 Mrd. Hilfe zur Bekämpfung von Fluchtursachen in den Nothilfe-Treuhandfonds Afrikas einzuzahlen. Real sind bisher gerade einmal 24 Millionen geflossen. Auf dem EU -Gipfel im September wurde eine Verteilung von 160.000 Flüchtlingen ausgehandelt. Liebe Genossinnen und Genossen, das ist angesichts der realen Flüchtlingszahlen absurd. Allein in Deutschland werden in diesem Jahr 1 Million Flüchtlinge erwartet.
Viele gehen dahin, wo sie schon Verwandte haben. Sie gehen dahin, wo es größere Communities gibt, die ihre Sprache sprechen und helfen können.
Es kommen, wie bei allen Migrationsbewegungen oft die besser Ausgebildeten, die Jungen. Für Frauen ist Flucht eine mehrfach riskante Unternehmung. Schon traumarisiert vom Krieg, sind sie oft weiterhin sexueller Gewalt ausgesetzt.
In welche Richtung kann überhaupt ein Umdenken in der Europäischen Flüchtlingspolitik gehen? Sollte es nicht einen Europäischen Fonds geben, der Ländern und Kommunen zugutekommt, die – aufgrund der realen Fluchtrouten, Ankunfts- und Zielländern – besonders viele Flüchtlinge betreuen?
Sollten nicht Regional- und Strukturfonds dort greifen, wo erfolgreiche Integrationsarbeit geleistet wird, wo Europäische Unterstützung letztlich nachhaltig ist, weil Zugänge zu Gesundheit, Jobs, Ausbildung ermöglicht werden?
Im Europaparlament diskutieren wir derzeit darüber, wie im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik Mittel für eine effektive Integration von Flüchtlingen und Migranten ausgegeben werden können. Dabei geht es um Investitionen in die soziale Betreuung, Gesundheits- Wohnungsbau- und die Infrastruktur für die Kinderbetreuung, den Wiederaufbau verfallener Stadtgebiete, Aktivitäten zur Verhinderung der Bildungsisolation von MigrantInnen, die Förderung von Start-ups usw.
Niemandem ist geholfen, wenn Flüchtlinge in haushaltsnahen Dienstleistungen und Careberufen, Prostitution eingeschlossen, in ungesicherten und stigmatisierten Verhältnissen leben und ausgebeutet werden.
Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle aber auch, dass das Europaparlament am vergangenen Mittwoch über die Bewilligung zusätzlicher 401,3 Mio. beraten hat, die die Kommission zur Bewältigung der Flüchtlingskrise für Staaten mit erhöhter Belastung vorgeschlagen hatte.
Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
Es geht in diesen Tagen die scheinbar harmlose Frage um: „Schaffen wir das in Europa, einige Millionen aufzunehmen?“. Doch das ist genau genommen eine Frage der Realitätsverweigerung. Sie schürt nicht nur Ängste und bedient den rechten Rand – sie suggeriert auch, dass es bald schon mit den Flüchtlingsströmen vorbei sein könnte. Aber sie gehören längst zur Wirklichkeit und sind – und das ist unsere Aufgabe, es immer wieder zu betonen – Auswirkungen herrschender Politik.
Alle Weichen der derzeitigen Europäischen Flüchtlingspolitik stehen auf Verschärfung der Abschottung durch Frontex. Es ist ein Kampf gegen Flüchtlinge statt gegen die Ursachen der Flucht.
Wir müssen uns hier nicht gegenseitig über den menschenrechtlichen Aspekt einer humanen Flüchtlingspolitik aufklären. Wir sollten uns ganz praktisch austauschen, wie eine humane Flüchtlingspolitik vor Ort gelingt, wo die meisten Widerstände liegen, wo wir Ansätze sehen, dass wir uns der Herausforderung wirklich stellen
Und damit will ich abschließend – und ausgehend von meinen Erfahrungen aus der Türkei – sagen:
Eine EU, die die derzeitige Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklären will, die mehrheitlich zur Verfolgung von Journalisten und der Kriminalisierung der eigenen politischen Opposition schweigt
Eine EU, die gleichzeitig die Türkei als strategischen Partner bei der Abschottung von Flüchtlingen verstehen will, solch eine EU opfert ihre humanistischen Werte , die eigentlich das Bindeglied der europäischen Gemeinschaft sein sollten.
Mit der Uneinigkeit im Umgang mit den Flüchtlingen zeigen sich zugleich die eklatanten Schwachstellen dieser Union.
Die GUEGNL-Fraktion hat einen alternativen 15 Punkte-Plan zur Flüchtlingspolitik entworfen und verabschiedet, den findet ihr im Internet. Doch unsere Programme müssen noch viel konkreter werden. Und deshalb sind wir heute hier, um uns auszutauschen, wie wir eine konkrete Flüchtlingspolitik gestalten wollen, gemeinsam mit den Flüchtlingsorganisationen, mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, die mit einer Willkommenskultur gute Erfahrungen gemacht haben, gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern, die ankommenden Flüchtlingen helfen. Alle zeigen der herrschenden Europäischen Politik, dass es auch anders geht.
Als Linke haben wir hier eine hohe Verantwortung, dazu beizutragen, dass nicht in unseren Ländern lebende Menschen gegen Flüchtlinge und Asylsuchende ausgespielt werden. Wir müssen begreifen, dass sich unsere Gesellschaften in den nächsten Monaten enorm verändern werden und dass dies eine komplexe Lösung aller gesellschaftlichen und sozialen Probleme erfordert.
Die Bekämpfung von Armut und von Arbeitslosigkeit ist nicht getrennt von der Lösung des Flüchtlingsproblems zu betrachten. Alles andere würde zu einer sich vertiefenden Spaltung der Gesellschaft führen und nicht zu übersehende Erscheinungen von Fremdenhass und Rassismus weiter verstärken, gegen die wir ankämpfen müssen.
Danke für eure Aufmerksamkeit.