Kulturelle Vielfalt nicht ver-handeln! – Was Kino-Mitteilung, Tariflohn und das TTIP miteinander zu tun haben
von Lothar Bisky und Nora Schüttpelz
Kulturelle Ausnahme: Was das ist …
Daß Kultur mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird, scheint uns Europäern ganz normal. Ja, wir halten es Blick auf unsere Geschichte und Zukunft für notwendig, unser historisches und kulturelles Erbe sowie Ausdrucks- und Meinungsfreiheit zu schützen und zu fördern. „In Vielfalt geeint“ ist Selbstverständnis und Selbstverpflichtung der Europäischen Union. Sie folgen aus der Erkenntnis, daß Identifikation mit der EU auch davon abhängt, in welchem Maße das Zusammenwachsen in Europa als kulturelle Bereicherung erlebt wird und ob regionale Kultur in Europa als gut aufgehoben und gefördert erlebt wird. Kultureller Austausch und das internationale Agieren (nicht nur) der Kunstschaffenden werden vielfach als Motoren europäischer Einigung begriffen und in der Tat ist gerade die nur scheinbar komplizierende uns kostspielige Vielsprachigkeit Teil dessen: Europa ist der Kontinent der Übersetzungen. Dialoge zwischen Sprachen eröffnen andere Denkweisen, Ansichten, Lebensweisen, die nur denjenigen nicht verborgen bleiben, die in mehreren Sprachen denken müssen, wollen und können.
Kulturförderung hat unterschiedliche Form: Buchpreisbindung, die Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Urheberrecht, Subventionen für künstlerische und Filmproduktionen und Synchronisierung, Finanzierung von Theatern, Bibliotheken, Museen, reduzierte Mehrwertsteuer für Kulturgüter, Austausch- und Kooperationsprogramme für Kulturschaffende und natürlich auch Förderprogramme für den Austausch im Bildungsbereich. Wenn auch manch konkrete Regelung wie der neue Rundfunkbeitrag nicht jedem gefällt – fast alle Steuerzahler sind im Grunde einverstanden, daß Kultur, einschließlich öffentlich-rechtlicher Medien, nicht reine Handelsware, sondern auch öffentliche Aufgabe ist und deshalb besonderen Regeln unterliegt.
… und wo es steht
Das ist gemeint, wenn von der „kulturellen Ausnahme“ oder vom Schutz kultureller Diversität gesprochen wird. International vereinbart ist dieses Prinzip in der UNESCO-Konvention zum „Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“. 130 Staaten sowie die EU selbst haben die Konvention seit 2005 ratifiziert. Durch sie ist das „souveräne Recht [der Vertragspartner], ihre Kulturpolitik zu formulieren und umzusetzen sowie Maßnahmen zu beschließen, um die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu schützen und zu fördern“ im Völkerrecht verankert. Ausdrücklich ist vereinbart, daß dieses Übereinkommen nicht anderen Verträgen – etwa Freihandelsabkommen – unterzuordnen ist.
Die EU ist primärrechtlich auf die Wahrung der „nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitige Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ verpflichtet (Art.167 AEUV). Ausdruck findet dies zum einen in der Kulturförderung durch die EU selbst. Im neuen Programm „Kreatives Europa“ sind die bisherige Filmförderung durch die MEDIA-Programm und die Kulturförderung aus dem KULTUR-Programm zusammengefaßt. Durch sie wurden bislang und werden auch in Zukunft Fördermittel von Bund und Ländern ergänzt.
Zugleich können derartige staatliche Kulturfördermaßnahmen vom allgemeinen Verbot staatlicher Beihilfen im EU-Binnenmarkt ausgenommen werden nach Art. 107.3d AEUV – und sind es aktuell auch noch.
Alles Kultur-gut? Mitnichten.
Doch Verfechtern internationalen Freihandels, der Binnenmarktfreiheiten sowie der Austeritätspolitik ist die „kulturelle Ausnahme“ ein Dorn im Auge. Sowohl das Handelsabkommen zwischen der EU und den USA, zu dem die Verhandlungen im Juli 2014 begannen, als auch die geplante Neugestaltung der „Kino-Mitteilung“ der EU-Kommission bei gleichzeitiger Kürzung des EU-Haushalts durch die Regierungen der Mitgliedstaaten gefährden die Kulturlandschaft wie wir sie kennen. Es gibt sicherlich mehr Beispiele, doch diese mögen zur Veranschaulichung der aktuellen Notwendigkeit, die Sonderstellung der Kultur zu verteidigen, zunächst genügen.
Wettbewerb der Kulturen
In den USA funktioniert Förderung von Kultur und Medien ganz anders als in Europa, ist mehrheitlich privatwirtschaftlich oder über Steuervergünstigungen organisiert. Kulturgüter werden vielmehr als Produkte angesehen. Es ist souveränes Recht dieses Landes, den Bereich der audiovisuellen Dienstleistungen entsprechend der eigenen Philosophie zu organisieren. Doch das geplante Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) zwischen EU und USA könnte die besondere Rolle, die Europa der Kultur aufgrund der hier vorhandenen Bedingungen und Unterschiedlichkeiten zuschreibt, zur Disposition stellen. Zumal die USA die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt nicht ratifiziert hat. Kritiker befürchten, US-Filmproduktionsfirmen könnten im Falle der Liberalisierung des audiovisuellen Sektors gegen die in Europa gängige Sonderbehandlung des Kultur- und Kreativsektors klagen. Wahrscheinlicher noch wäre, daß sie die sowieso knappen Fördergelder ebenfalls einforderten. Denn Kernziel von Freihandelsabkommen ist ja, daß die Vertragspartner sich gegenseitig als „Markt-Inländer“ behandeln: Was einer darf, muß auch dem anderen gewährt werden. Heraus käme, so die Befürchtung, mehr Kommerzialisierung, weniger Kulturvielfalt: Schon jetzt liegt der Marktanteil europäischer Filme in den USA bei nur 6,5%, während US-amerikanischer Kinofilme in der EU im Durchschnitt über 60% ausmachen, in einigen Ländern sogar deutlich mehr (Zahlen von 2010). Frankreich, das sich noch vergleichsweise besonders hohe Subventionen und Schutzquotenregelungen „leistet“, bringt es immerhin noch auf einen Marktanteil eigener Filmproduktionen von 40%.
Ein Aufschrei von Film- und Medienschaffenden und einem Teil der Politiker in den Mitgliedstaaten aber vor allem auch im Europaparlament hat bewirkt, daß die Liberalisierung des Kultursektors zunächst nicht Eingang ins Verhandlungsmandat der EU-Kommission fand. Was genau aber am nicht-öffentlichen Verhandlungstisch besprochen und letztlich dem Europaparlament als Vertragsentwurf zur Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt wird, muß sich erst noch zeigen: Der für internationalen Handel zuständige EU-Kommissar Karel de Gucht hat bereits angekündigt, eine Erweiterung seines Mandats anzustreben, sollten Zugeständnisse zur Liberalisierung von Film und Fernsehen im Verhandlungsverlauf aus seiner Sicht erforderlich werden. Er scheint die audiovisuellen Dienstleistungen als schlicht als Verhandlungsmasse im Ringen um wirtschaftliche Vorteile anzusehen.
Nun schreibt die EU-Kommission selbst: „Die EU verfügt über Regeln zum Schutz der reichen kulturellen Vielfalt Europas, […]. In der EU und in den Mitgliedstaaten gibt es Gesetze, die die kulturelle Vielfalt schützen und fördern, z. B. bei der Produktion von Filmen und Fernsehprogrammen, dem sogenannten audiovisuellen Sektor. Die EU wird das Recht und die Fähigkeit, Europas kulturelles Erbe zu schützen, keiner Gefahr aussetzen.[1]„
Tatsächlich aber geht die sie auch innerhalb der EU ganz direkt den Weg, Kultur immer mehr zu einem „normalen“ Wirtschaftssektor umzudefinieren, indem genau diese Schutzregeln aufgeweicht werden.
Kulturmarkt – Binnenmarkt – globaler Markt
Die weiter oben angeführte Sonder-Regelung über staatliche Beihilfen für die Kultur haben Marktgläubige längst im Visier. Sie besagt, daß Beihilfen zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes als mit dem Binnenmarktregeln vereinbar angesehen, also erlaubt werden können. In Bezug auf die Filmförderung regelte die EU-Kommission in der so genannten Kino-Mitteilung[2], welche Grenzen den Staaten und Regionen bei der Finanzierung von Filmproduktionen gesetzt sind.
Das Filmfördersystem in Deutschland und einer Reihe anderer EU-Mitgliedstaaten baut bislang stark auf Subventionen, vor allem auch durch die Bundesländer. Solche Subventionen werden damit gerechtfertigt, daß sie in den Wirtschaftskreislauf derjenigen Region zurückfließen, von der sie – meist aus Steuermitteln – gewährt werden. Mittels Förderauflagen zur so genannten Territorialisierung kann bisher verlangt werden, daß bis zu 80% der Produktionssumme vor Ort ausgegeben werden. Die Kino-Mitteilung von 2001 erlaubt diese Praxis, denn es galt als einsichtig, daß mit dieser Maßnahme Markt- und Handelsbeziehungen keineswegs unverhältnismäßig gestört wird, dafür aber kulturelle und gesellschaftlich wichtige Zielstellungen angemessen unterstützt werden. Indem ein Großteil Waren und Dienstleistungen aus der fördernden Region verwendet werden müssen, soll „Subventionstourismus“ vermieden, filmwirtschaftliche Infrastruktur vor Ort gestärkt und regionale Filmkultur erhalten werden. Letztlich ist das auch ein Aspekt, der Publikum anzieht: Wer fühlt sich nicht einem Film besonders verbunden, in dem die Kneipe nebenan oder Produkte, die in der Region hergestellt werden auftaucht, oder an dem ein früherer Schulfreund mitgewirkt hat?
Die Möglichkeit territorialer Auflagen will die EU-Kommission nun im Rahmen der turnusgemäßen Überarbeitung der „Kinomitteilung“ stark einschränken, weil es ihrer Auffassung nach dem Prinzip des freien Wettbewerbs widerspricht.
Erneut regt sich Protest bei Künstlern, den verschiedenen Interessengruppen der Filmwirtschaft[3] und Kulturpolitikern, selbst sonst konservativen. Denn der Kultursektor sowieso schon ein Bereich, der in Krisenzeiten oft ganz zuerst unter Kürzungen zu leiden hat: In Griechenland schließt die Regierung in Finanznot den staatlichen Rundfunk. Andernorts stehen Theater, Kinos und Museen vor dem Aus. Im EU-Haushalt ist für 2014 weniger Geld für Kulturausgaben vorgesehen als noch in diesem Jahr, obwohl die EU größer geworden ist. Angesichts echter oder vermeintlicher Sparzwängen würden wohl Mitgliedstaaten und Regionen noch weniger Rechtfertigungsgründe für Film- und Kulturförderung sehen, wenn die Subventionen künftig nicht mehr als Hebel für die regionale und lokale (Kultur-)Wirtschaft funktionierten. „Schwierige“ Filme – wie Kurzfilme, Erstlingswerke, Dokumentarfilme oder solche mit kompliziertem, besonders kritischem Inhalt oder ‚kleinen‘ Sprachen – würden vermutlich noch weiter aus dem geförderten Repertoire verschwinden.
Leider obliegt die Überwachung des Wettbewerbsrechts allein der EU-Kommission: Weder die Mitgliedstaaten noch das EU-Parlament haben bei der Überarbeitung der Beihilferegeln ein verbindliches Mitspracherecht – übrigens dies ein Punkt, den das Europaparlament bei der nächsten Revision der EU-Verträge dringend geändert sehen will. Der Kommission jedoch scheint vor allem an der Durchsetzung der Binnenmarktprinzipien gelegen. Was aber die alleinige Geltung von Prinzipien des freien Binnenmarkts ohne übergeordnete Schutzbestimmungen an anderer Stelle bewirkt, läßt sich beim Thema Mindestlohn erkennen: Es ist nicht möglich, die Fördermittelbewilligung für Filmproduktionen von der Zahlung deutscher Tariflöhne für an der Filmproduktion beteiligte Arbeitnehmer aus anderen Ländern abhängig zu machen, wenn entsprechenden Tarifverträge in Deutschland nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurden. Und jede weitere Liberalisierung im EU-Binnenmarkt macht es wahrscheinlicher, daß die betroffenen Güter auch unter Freihandelsverträge fallen.
Im Herbst 2013 stehen sowohl die Entscheidung über die neue Kino-Mitteilung als auch die nächste Verhandlungsrunde zum TTIP an. Bei beiden geht es um die Frage, ob die kulturelle Vielfalt, die doch entscheidend für das Selbstverständnis des Europäischen Projekts ist, ein weiteres Stück einem einheitlichen Unterhaltungsmarkt Platz machen muß.
Dieser Artikel ist die Langfassung eines Beitrags für „EuropaRot 12“
Kontakt zum Büro des MdEP Lothar Bisky
lothar.bisky@ep.europa.eu Tel.: +32 228 47834
[1] http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/questions-and-answers/index_de.htm
[2] „Mitteilung der Kommission an den Rat das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen zu bestimmten Rechtsfragen im Zusammenhang mit Kinofilmen und anderen audiovisuellen Werken (KOM(2001)534)).
[3] Siehe auch Stellungnahmen zum Konsultationsverfahren zur Kino-Mitteilung: http://ec.europa.eu/competition/consultations/2013_state_aid_films/index_en.html