Ungarn: ein bröckeliges Fundament
Der »Fall Ungarn« und die Antikrisenstrategien zeigen, dass Europa Veränderungen braucht – in den vertraglichen Grundlagen wie in der praktischen Politik.
Es hat lange gedauert, bis die Europäische Kommission reagiert hat. Mitte Januar leitete »Brüssel« drei sogenannte beschleunigte Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn
ein. Budapest hatte nach Ansicht der Kommissarinnen und Kommissare den Bogen überspannt: Durch den Einfluss der Orbán-Regierung auf die Zins- und Personalpolitik sei die Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank gefährdet, mit neuen Pensionsregelungen für Richter werde in die Justiz eingegriffen und der Datenschutz massiv verletzt.
Auf den ersten Blick mag das Vorgehen der Kommission gut aussehen. Tatsächlich jedoch ist es ein Armutszeugnis. Denn erst als es um währungspolitische und finanzielle Aspekte des antidemokratischen Kurses der konservativen ungarischen Regierung ging – also letztlich ums Geld – wurde gehandelt. Das spiegelt die gegenwärtige Verfasstheit der EU wider: Was eigentlich nur eine Dimension im Handlungsraum ist, wird zum alleinigen Handlungsraum erklärt. Dagegen haben es die EU-Mitgliedsstaaten und die Kommission bei mahnenden Worten belassen, als Viktor Orbán mit dem neuen Mediengesetz die Presse- und Meinungsfreiheit drastisch einschränkte. Sie haben nicht interveniert, als Sozialrechte beschnitten und die Arbeitsgesetzgebung gerade gegen die am schlechtesten gestellten Menschen verschärft wurde und beispielsweise Obdachlose zum Freiwild für die Polizei erklärt wurden. Sie haben zumeist weggeblickt und geschwiegen, als sich die rechtsextreme Gewalt im Land ausbreitete, als Rechte der Minderheiten eingeschränkt wurden und insbesondere die Diskriminierung der Roma ein nahezu unerträgliches Maß erreichte. Dabei ist dies ebenfalls eine klare Verletzung der europäischen Verträge: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören«, heißt es in Artikel 2 des EU-Vertrags. Ausdrücklich werden dort auch Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit und Solidarität zu Grundwerten der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedsstaaten erklärt.
Wegen der Verletzung dieser Werte hat die Linke im Europäischen Parlament ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Budapest gefordert und die demokratischen Kräfte in Ungarn auf vielfältige Weise unterstützt. Es bleibt jedoch das Grundproblem der gegenwärtigen Verfasstheit Europas: Soziale Fragen, Grund- und Bürgerrechte, demokratische Mitsprache und Mitentscheidung werden nicht als zentrale Politikbereiche betrachtet.
Im Gegenteil: In der Krise werden sie sogar immer weiter zurückgedrängt, wie gerade das Beispiel Deutschlands und Frankreichs zeigt, die am Europäischen Parlament vorbei Verträge mit nicht abschätzbaren Einschnitten aushandeln. Soll Europa eine Zukunft haben und auch von den Menschen angenommen werden, braucht es wesentliche Veränderungen – in den vertraglichen Grundlagen ebenso wie in der praktischen Politik.