Bremsversuche im Hamsterrad
Weniger ist mehr: Wie die Krise der Debatte um die Arbeitszeitpolitik neuen Schwung verleiht
Artikel von Tom Strohschneider, in: der Freitag
Als der Sozialphilosoph Oskar Negt einmal zu den Chancen der Gewerkschaften in Zeiten einer schwarz-gelben Koalition gefragt wurde, erinnerte er sich an eine Diskussion mit seinem Kollegen Oswald von Nell-Breuning in den achtziger Jahren. Man debattierte seinerzeit über den Kampf der Gewerkschaften um Arbeitszeitverkürzung. „Junger Freund“, habe der Jesuit ihm damals geantwortet, „sie kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären zehn Stunden völlig ausreichend.“
Es ging um die ganze Woche, das muss man heute betonen. Gerade hat das Statistische Bundesamt eine Studie zur „Qualität der Arbeit“ vorgelegt, die vor allem mit der Nachricht Schlagzeilen machte, dass fast jeder Zehnte überlang arbeitet. Mehr als 48 Stunden in der Woche, also über die gesetzliche Obergrenze hinaus. Vor allem Selbstständige, Landwirte und so genannte Führungskräfte stecken in der Dauermühle. Die Voll- und Teilzeitbeschäftigten dagegen gaben ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit „nur“, wie eine Zeitung anmerkte, mit 35,8 Stunden an.
Durchschnittszahlen erklären wenig in einer Welt, in der Teilzeit- und Minijobs zugenommen haben und volle Stellen auf dem Rückzug sind. Getrennt betrachtet ergibt sich ein völlig anderes Bild. So hat zwar die mittlere Jahresarbeitszeit inzwischen den niedrigsten Stand seit der Wende erreicht – im Vergleich zu 1991 ein Rückgang um knapp acht Prozent. Bei Vollzeitbeschäftigten stieg die Jahresarbeitszeit von 2000 bis 2008 jedoch leicht, bei Teilzeitbeschäftigten sogar deutlich an. Der von den Bundesstatistikern verzeichnete Rückgang hat durch die krisenbedingte Kurzarbeit 2009 zusätzlichen Schwung bekommen.
Gerade darin könnte allerdings auch eine Chance liegen. Zwar mussten Kurzarbeiter Lohneinbußen hinnehmen. Aber „die Erfahrung, den Arbeitsplatz nicht verloren zu haben, ist äußerst positiv, und nicht wenige Angestellte haben den Reiz kürzerer Arbeitszeiten schätzen gelernt“, meint Steffen Lehndorff vom Institut Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen. In den Erwerbslosenbewegungen und Anti-Krisen-Bündnissen wird heute sogar über die 30-Stunden-Woche diskutiert. Dem jüngsten SPD-Parteitag lagen Anträge zur Arbeitszeitverkürzung vor. Und auch in den Gewerkschaften spielt das Thema noch eine Rolle. Nach Jahren der politischen Defensive und der Verlagerung der Arbeitszeitpolitik in die Betriebe ist das Feld für den DGB indes schwer zu beackern.
Das belegen Lehndorffs Zahlen: Seit Mitte der neunziger Jahre haben 35- bis 39-Stunden-Wochen unter Vollzeitbeschäftigten drastisch an Boden verloren. Die Gewerkschaften mussten jene Bastion räumen, in der sie einst tarifpolitische Erfolge errungen hatten. Es war dies eine „Niederlage West“: Vor allem in der Metallbranche und im öffentlichen Dienst wurden die Arbeitszeiten an das bereits höhere Ost-Niveau angeglichen. „35 Stunden sind genug“, das können heute bundesweit nur etwa sechs Prozent der Vollzeitbeschäftigten über ihre Woche sagen. Inzwischen sind 40 und mehr Stunden wieder weit verbreitet.
Rückverteilter Reichtum
Eine starke Ausdifferenzierung der Arbeitszeitlandschaft zeigt sich auch in einer Studie, die gerade von dem linken Europaabgeordnetem Thomas Händel und seinem Bundestagskollegen Axel Troost vorgestellt wurde und die Rückeroberung der „Zeitfrage“ voranbringen soll. Zwar sei auf EU-Ebene die Verschlechterung der bestehenden Arbeitszeit-Richtlinie in der letzten Legislatur verhindert worden. Es sei jedoch „naiv zu glauben“, dass der „Roll Back“ bereits beendet sei. Händel und Troost plädieren für eine offensive Diskussion: Kürzere Arbeitswochen bei mindestens teilweisem Lohnausgleich schaffen Arbeitsplätze und stellen im Übrigen „eine Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums“ dar.
Das Problem: Nicht wenige Vollzeitbeschäftigte würden für ein Einkommensplus sogar länger arbeiten, berichtet die Bundesagentur für Arbeit. Zudem hat die wachsende Gruppe der Teilzeitbeschäftigten und Minijobber andere Sorgen als zu lange Arbeitswochen. Hinzu kommt: Je mehr Kinder ein Mann hat, desto länger sind seine Arbeitszeiten; je mehr Kinder dagegen eine Frau hat, desto kürzer die ihren. Die Arbeitszeitfrage ist also auch eine der Rollenbilder und der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und nicht zuletzt wird eine neue Diskussion stärker die „Lebenslaufperspektive“ in den Blick nehmen müssen, also die Verteilung von Arbeitszeiten über die gesamte Berufsbiografie hinweg.
Lehndorff hat drei Vorschläge gemacht, die zeigen, wie sich in einer stark differenzierten Arbeitswelt die Zeitfrage neu stellen lässt: eine 30-Stunden-Woche für junge Mütter und Väter könnte zwischen Familienleben und dem Interesse an Kontinuität im Beruf vermitteln sowie Arbeit zwischen Männern und Frauen umverteilen; kürzere Arbeitszeiten für stark belastete Beschäftigte könnten den Trend zu einer „Differenzierung nach oben“ brechen; und schließlich braucht es mehr gewerkschaftliche Aufmerksamkeit für Beschäftigte, die zwar ihre Arbeitszeit selbst steuern, dies aber unter fremdbestimmten Bedingungen tun – und deshalb oft sehr lange im Büro sitzen.
Die praktischen Auseinandersetzungen darum werden vor allem in den Betrieben und Verwaltungen stattfinden. Sie brauchen jedoch Rückenwind: eine neue gesellschaftliche Verständigung über ein „gutes Leben“ jenseits von Berufsprestige und Einkommen, über gelebte Solidarität bei der Verteilung der Arbeit und ehrliche Antworten auf die Frage, wer vom Dauerlauf im Hamsterrad in Wahrheit profitiert. Arbeitest du noch, oder lebst du schon? Oskar Negt war sich jedenfalls sicher, dass „diese Debatte wieder kommen“ wird.
der Freitag Artikel-URL: http://www.freitag.de/politik/1040-bremsversuche-im-hamsterrad