Kritik an der EU-Impfstrategie
Ein Kommentar von Martina Michels und André Seubert
Stellt Euch vor, ein Konzern wie Microsoft würde Geld von Euch einsammeln, um ein neues Programm zu entwickeln. Dann möchte Microsoft noch Geld, um genug Server zu kaufen, von denen Ihr das Programm später auf Eure Rechner laden könnt. Ihr macht mit, gebt das Geld. Irgendwann steht die Software bereit. Was würdet Ihr sagen, wenn Microsoft sich dann das fertige Programm noch von Euch bezahlen lassen möchte? Wahrscheinlich würden die meisten empört die Software kostenlos fordern, sie haben ja ihr Geld bereits vorher in die Entwicklung gesteckt. Oder Ihr wollt Euer Geld zurück und bestellt nie wieder bei dieser Firma.
Ein unrealistisches Beispiel, glaubt Ihr? Falsch. Genau so eine Situation erleben wir gerade in der EU. Zwar nicht mit Microsoft und es geht auch nicht um Software, sondern um die Pharmaindustrie und die Corona-Impfstoffe. Die Steuerzahler*innen haben Milliarden Euro vorgestreckt, damit Impfstoffe erforscht und hergestellt werden können. Jetzt lassen sich die Pharmakonzerne die Impfdosen großzügig bezahlen. Die EU-Kommission hatte den Auftrag, genug Impfdosen für die Europäer*innen zu bestellen und mit den Herstellern über Kosten der zu liefernden Impfstoffe zu verhandeln. Aber die Öffentlichkeit sollte nicht einmal die Preise der Impfstoffe erfahren. Denn die Verträge der EU mit mehreren Pharmafirmen sind geheim.
Für dieses absurde Spiel musste Ursula von der Leyen, Chefin der EU-Kommission, heftige Kritik von vielen Europaabgeordneten einstecken als sie letzte Woche im EU-Parlament die europäische Impfstrategie verteidigte. Einige Details der Deals sind inzwischen bekannt. Nach öffentlichem Druck können sich Abgeordnete des EU-Parlaments seit einigen Wochen den Vertrag mit der Firma Curevac ansehen. Bisher der einzige Hersteller, der sich in die Karten schauen lässt. Andere, wie Pfizer/Biontech, pochen auf die Vertraulichkeit der Verträge. Unser belgischer Genosse Marc Botenga drückte es in der Debatte so aus: „Was für ein Zirkus!“ Er war einer der ersten, der einen Blick in den Vertrag warf. Er musste sein Smartphone abgeben, eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben, konnte nur in einem speziellen Leseraum in die Verträge schauen. Und dann waren die wichtigsten Informationen geschwärzt. Deshalb stellen wir eine grundlegende Frage: Wie kann es sein, dass private Konzerne bestimmen, welche Informationen die Öffentlichkeit zu einem solch wichtigen Thema bekommt? Vor allem, nachdem die Bürger*innen Milliarden in Impfstoffe gegen einen Virus gesteckt haben, der uns alle seit Monaten in Schach hält?
Für DIE LINKE im EP steht fest, dass die EU diese Verträge offenlegen und volle Transparenz schaffen muss. Darin geht es nicht nur um die Kosten, sondern auch darum, wer für mögliche Spätfolgen haften muss. Solche Informationen müssen in einer Demokratie für alle verfügbar sein. Nicht zuletzt hängt davon das Vertrauen der Bürger*innen in die Impfstrategie ab. Außerdem fordern wir, dass die Impfstoffe als öffentliches Gut gelten müssen. Denn die Gesundheit von uns allen ist wichtiger als Profite von Pharmakonzernen. Stattdessen rechnen Pfizer und Bionteck mit Milliardengewinnen durch den Corona-Impfstoff in den nächsten Jahren.
Außerdem fordern wir, dass die EU als Vorreiterin den Patentschutz für die Impfstoffe aufhebt. Das ließen unsere Genoss*innen Katerina Konecna und Dimitris Papadimoulis die Kommissionspräsidentin wissen. Das will auch die Initiative „right2cure.eu“, die schon mehr als eine Million Menschen unterstützen. Nur so könnten Generika hergestellt werden, um weltweit schneller und günstiger zu impfen. Eine weltweite Pandemie lässt sich nur global bekämpfen. Überall trauern Menschen über ihre toten Angehörigen und Freund*innen. Die ganze Welt ächzt unter Ausgangssperren, Lockdowns und der Gefahr für die Gesundheit. Ein Virus kennt keine Grenzen. Deshalb gründete die WHO zusammen mit der EU und anderen Staaten die Covax-Initiative. Neuer Impfstoff sollte fair überall zur Verfügung stehen, nicht nur in reichen Ländern, um die Pandemie weltweit einzudämmen. Denn die beste Impfstrategie in einer Region bringt nichts, wenn der Virus in der Zwischenzeit anderswo mutiert und wiederkehrt. Doch die reichen Länder, u. a. auch die EU, haben sich durch direkte Verträge mit den Herstellern den Großteil der weltweiten Impfungen vorab unter den Nagel gerissen. Deshalb droht die Initiative zu scheitern. Der WHO-Chef spricht bereits davon, dass die Welt „am Rand eines katastrophalen moralischen Versagens“ steht. Solange die Kommission ihre Impfstrategie nicht ändert, werden die Gewinner*innen der Pandemie die Pharmakonzerne sein. Und wenn die reichen Staaten nicht schnell ihren Egoismus ablegen, wird die ganze Welt noch lange unter Sars-CoV-2 leiden. Dagegen können und müssen wir uns gemeinsam wehren.