Özlem Demirel und Martina Michels nach der Anhörung, EGMR, 18.9.2019
Özlem Demirel und Martina Michels nach der Anhörung, EGMR, 18.9.2019

„Heute haben wir eine einfache Frage zu beantworten…“

Anhörung im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) „Selahattin Demirtaş gegen Türkei“ – Bericht und Videostatement

„Heute haben wir eine einfache Frage zu beantworten…“, so begann Prof. Başak Çalı, die für die Anklageseite, für Demirtaş, in der Anhörung gegen die Türkei, sprach: „Darf man einen linken Politiker wegen seiner Opposition der Freiheit berauben, so wie es der Türkische Staat seit 3.11.2016 getan hat?“

Er wurde 2015 demokratisch gewählt, hatte 2014 den Friedensprozess für Kurdinnen und Kurden begleitet und wurde einer der Co-Vorsitzende der Oppositionspartei HDP. Nach den Wahlen im Juni 2015, so führte die Beraterin und Anwältin aus, brach die demokratische Debatte in sich zusammen. Die Opposition wurde verfolgt und kriminalisiert.

In Diyarbakir wurde bis Anfang November 2016 alles aus Reden, aus den sozialen Medien, im Parlament gesammelt und am 4.11.2016 erhob ein Gericht in Diyarbakir Anklage und erklärte Demirtaş zum Terroristen. Die Klagewelle summierte sich schnell auf 68 Entscheidungen lokaler Gerichte gegen Demirtaş. Überdies konnte Demirtaş seit 2016 seine Rechte als gewählter Parlamentarier nicht mehr ausüben. Die Anklage hob hier besonders die Verletzung des  Art.18[1] der Europäischen Menschenrechtskonvention, bei der sowohl gewährleistet sein muss, dass ein/e Angeklagte/r schnell zu einem fairen Verfahren kommt und dass seine Rechtseinschränkungen an einen konkreten Zweck gebunden sein müssen. Beides wurde nicht eingehalten.

Mit der Fragwürdigkeit der Haft selbst sind dann der Art. 5. das Recht auf Freiheit und natürlich auch der Art.10 (freie Rede) aufgerufen, um Menschen bei der Ausübung ihrer politischen Rechte zu schützen. Die Türkische Regierung hatte derweil mit über 518 Ermittlungsverfahren aufgewartet. Das erschwerte natürlich der Anklage beim Gerichtshof für Menschenrechte, überhaupt reflektieren zu können, was da alles gegen Demirtaş ermittelt werden sollte und in den Anklagen innerhalb der Türkei ging auch Vieles munter durcheinander. Mal war von Waffenbesitz die Rede, mal von „den Leuten“ und es gab inzwischen über 100.000 Fälle vorm Verfassungsgericht… Man konnte nicht mehr nachvollziehen, was einzelne Personen mit diesen Anschuldigungen zu tun haben. 

Für die Türkische Regierung agierte im Wesentlichen der deutsche Verfassungsrechtsprofessor Stefan Talmon, der die Prozessführungen innerhalb der Türkei als effektiv bezeichnete. Er sah schon deshalb eine Klage gegen den Freiheitsentzug und damit den Bezug auf Art. 5.4. als unbegründet an.[2] Er erwartete, dass eine Beugung des Rechts hätte nachgewiesen sein müssen. Doch die Prozesse waren noch gar nicht abgeschlossen und erweiterten sich durch internationale Ermittlungen. Damit bezog er sich, so wie es der EGMR selbst oft bisher tat, auf die Rule 14, dass man erst vorm EGMR klagen kann, wenn regionale und nationale Gerichte ihre Prozesse abgeschlossen und ausgeurteilt haben. Deshalb sei der Art. 5 zurück zu weisen. Den Stichtag sieht die Türkei hier beim 20.2.2017. Zugleich wurde behauptet, dass nicht nur Art.5.3. und Art.18 zurückzuweisen sind wegen der fehlenden nationaler Entscheidungen, sondern dass auch Art. 5.1. und Art. 10 für ein Mitglied des Parlaments nicht mehr greifen, wenn die Immunität aufgehoben sei. Bis hierhin war die Absurdität der Begründungen gestützt worden, indem man sich auf die Fälle der wegen „Terrorpropaganda“ verurteilen Anwälte von Demirtas, wie Hasip Kaplan, bezog.

Dunja Mijatovic, Menschenrechtskommissarin des EGMR sprach in ungewöhnlicher Klarheit für die dritte Partei bei der Anhörung, die für gewöhnlich in neutraler Form auf den Fall eingeht. Sie legte jedoch dar, dass die Türkei nicht für sich in Anspruch nehmen kann, dass – besonders nach den Notstandsgesetzen nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2017 – noch eine Gerichtsbarkeit am Werke gewesen sei, die im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stand. Sie stütze sich dabei auf umfangreiche Analysen der Venedig-Kommission. Deshalb hätte der Kläger ohnehin keine andere Wahl gehabt und sich an den EGMR gewendet. Einigermaßen überraschend formulierte sie, dass hier ein klares Urteil vor allem auch für die Menschen in der Türkei gebraucht würde. In der Vergangenheit war der EGMR durchaus der Argumentation der Türkei gefolgt, zum Beispiel als es 2016/17 um die Rechtmäßigkeit der Aussperrungen in Städten im Südosten der Türkei ging. Damals urteilte der EGMR, dass die Klage erst, wenn der Rechtsrahmen in der Türkei ausgeschöpft sei, angestrengt werden konnte.

Die anschließenden Fragen der Richter*innen, insbesondre Angelika Nussberger (Deutschland) , André Potocki (Frankreich) und Ksenija Turkovic (Kroatien) stellten einleitend klar, dass der Art. 18.1. klare Regeln hat und auch außerhalb des Parlaments gilt. Deshalb kann man die Immunitätsaufhebung nicht geltend machen. Scharfe Fragen wurden zur Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gestellt und zur Evidenz derselben und man hätte auch gern gewusst, was die Türkei überhaupt unter Terrorismus versteht.

Die Klägerseite betonte gleichermaßen, dass sowohl inhaltlich als auch verfahrenstechnisch die Unterscheidung von „innerhalb“ und „außerhalb des Parlament“ ohnehin unsinnig ist. Die Reden außerhalb des Parlaments sind vom Art. 18.3. genauso geschützt wie Channels der sozialen Medien usw.

Stefan Talmon antwortete ungerührt der vorgetragenen Argumentation für die Türkei, dass doch die Immunitätsaufhebung von der Opposition mitbeschlossen wurde, sie also kein Akt der AKP-Regierung war. Das ist zwar bezogen auf die CHP wahr, nur ändert dies die Argumentation für die umfassende Geltung des Art. 18.3. – auch außerhalb des Parlaments – nicht. Absolut dünn wurde es dann bei den Kriterien für Terrorismus, der einige formale Bestimmungen wie Intensität angeheftet bekam und dann kurzerhand durch einen seltsamen Protagonistenbeweis definiert wurde. Terroristische Organisationen sind  so etwas wie die PKK und das sieht letztlich die UNO und die EU genauso.

Die Richterin Nussbaum eröffnete eine zweite Fragerunde, in der sie nochmals nachfragte, was die kollektive Vereinnahmung von Individuen soll, worauf Talmon antwortete, dass die Immunitätsaufhebung als Parlamentarier nicht automatisch ein neues Recht konstituiere, dagegen vorzugehen. Solch eine Aufhebung sei ohnehin zeitlich begrenzt und eine Entscheidung des Parlaments. De facto ließ sich die Türkei auf die Garantie der Grundrechte jenseits parlamentarischer Tätigkeiten in ihrer Argumentation auch diesmal gar nicht ein.

Letztlich ist dies eine Argumentation der Türkei, der – so die heutige Anhörung – der EGMR nicht folgen kann. Die Hoffnung, dass in 2 – 3 Monaten, ein Urteil gefällt wird, das eine Freilassung von Demirtaş und die Garantie seiner Rechte als Politiker stark macht, sind mit dem heutigen Tage begründet gewachsen.

Hoffentlich gib es bald eine Entscheidung, hoffentlich ist Demirtas bald frei, denn es wäre ein überfälliges Signal für all die anderen inhaftierten Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen, deren Menschenrechte derzeit mit Füssen getreten werden.    

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Bericht der Anhörung: Konstanze Kriese, Videostatement/Produktion: Press unit: GUENGL

 

[1] Die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten dürfen nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen. (ART. 18)

[2] Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, daß ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist. (ART. 5.4)

 

Die Anwälte von Demirtas, Prof. Basik Cali (2.v.r.), EGMR, 18.8.2019
Konstanze Kriese

(v.l.n.r.): Hakan Tas, Martina Michels, Konstanze Kriese, Özlem Demirel
Alexandra Mehdi

Vorsitzender der HDP, Cezai Temelli. 2.v.l., Feleknas Uca (1.v.r.), HDP-Vorstand
Konstanze Kriese

https://www.youtube.com/watch?v=E8