Martinas Wochen 6 und 7_2018
DenizFree – FreeThemAll – Strasbourg – Krieg in Afrin – HDP-Parteitag in Ankara – Zukunft Europas und Regionalpolitik
Deniz Yücel ist aus der Haft entlassen – Eimer voller Wermutstropfen folgen auf dem Fuße
In diesen zwei Wochen überholten sich die Ereignisse, so dass ein Video, dass Martina vorm Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angesichts der einjährigen Haft von Deniz Yücel aufgenommen hatte, zwei Tage später zum Glück schon zum Teil veraltet war, denn Deniz Yücel wurde endlich aus der Untersuchungshaft entlassen. Autokorsos, Rakı in Strömen, alles gab es zu seiner Freilassung, auch das wunderschöne Foto seines Rechtsanwaltes Ok, das in den sozialen Netzwerken sooft geteilt wurde und Deniz und Dilek Yücel vor der Haftanstalt zeigt mit einem dicken Strauß Petersilie.
Am gleichen Tag mischten sich zugleich etliche Eimer Wermutstropfen in die Freude. Zum einen gibt es nun eine Anklageschrift, in der für Deniz Yücel 18 Jahre Haft gefordert werden. Zum anderen wurden am selben Tag sechs Journalist*innen in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter die Altan-Brüder. Erdoğans Handlanger zeigen ihre Zähne nicht nur im Inland, auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz wird Cem Özdemir in einer Weise bedroht, dass das Schweigen dazu auf internationalem Parkett einmal mehr verwundert und wütend macht. Die Eierei des sich für Yücels Haftentlassung feiernden geschäftsführenden Außenministers, der sich auch noch bei der türkischen Regierung für die Unterstützung bei der Verfahrensbeschleunigung bedankt, finden wir mindestens grenzwertig, Diplomatie hin oder her. Und machen wir uns nichts vor, die nächsten Waffendeals mit Rheinmetall sind längst in der Aushandlung, wie der MDR heute als Nachricht vom Rande der Münchner Sicherheitskonferenz berichtete.
„Sie haben uns gestern Nacht so oft durchsucht und nichts gefunden, außer unsere Hoffnung…“
Der dritte HDP-Kongress wählte am 11. Februar in Ankara neue Co-Vorsitzende. Gabi Zimmer und Martina Michels, die mit etwa hundert internationalen Gästen nach Ankara gereist waren, fuhren gemeinsam mit Hakan Taş in den Abendstunden des Samstags in die Parteizentrale der HDP und hatten, trotz der vielfachen Hiobsbotschaften, die sich am Vorabend des Parteitages verbreiteten, Gelegenheit mit der gerade aus der Haft entlassenen amtierenden Co-Vorsitzenden der HDP, Serail Kemalbay zu sprechen. 100 gecharterte Busse hatten – ganz offensichtlich unter Druck – ihren Auftrag storniert, HDP-Mitglieder von Istanbul nach Ankara zu bringen… Am nächsten Morgen waren unter widrigsten Umständen dennoch 32.000 Menschen nach Ankara zum Kongress gekommen. Manche sprachen von 40.000. Am Sonntagnachmittag wählten dann die 1.180 Delegierten, die Abgeordnete Pervin Buldan und den Wirtschaftsprofessor Sezai Temelli zu den neuen Co-Vorsitzenden. Ihnen obliegt die schwere Aufgabe, die HDP in die Wahlen, die bisher für 2019 angesetzt sind, zu führen und der AKP ein drittes Mal die absolute Mehrheit streitig zu machen, auch wenn das Land nicht mehr dasselbe ist, wie bis zum Sommer 2015, als eine friedliche Lösung der „kurdischen Frage“ noch greifbar schien. Hier ist der vollständige Reisebericht und die Pressemeldungen von Gabi Zimmer und Martina Michels.
Plenum in Straßburg vom 5. – 8. Februar 2018
Nun liegt es schon fast zwei Wochen zurück, dass sich das Parlament das zweite Mal in diesem Jahr zum großen Plenum in Straßburg traf. Neben völligen Fehlentscheidungen, Forschungsmittel für Klima und Nachhaltigkeit im neuen Haushalt reduzieren zu wollen, stand auch eine Debatte und Entscheidung zu transnationalen Listen auf der Tagesordnung. Am Ende entschied sich das Parlament gegen transnationale Listen, die Argumente waren ganz unterschiedliche und nicht immer war eine Entscheidung gegen die Listen zugleich ein Schwenk ins Nationalistische. Angesichts der heftigen Vernetzung der Rechtspopulist*innen in Europa konnte man der demokratietheoretisch charmanten Idee der transnationalen Listen auch dunkle Seiten abgewinnen und hatte damit nachvollziehbare Motive gegen die transnationalen Listen zu stimmen. Letztlich hat die Mehrheit der deutschen Delegation der LINKEN dafür gestimmt, vor allem auch, damit letztlich die Debatte, um die eigentlichen Möglichkeiten des Parlaments weitergeführt wird. Helmut Scholz hatte hier als Schattenberichterstatter gewirkt und die Abstimmung entsprechend kommentiert.
Unsere Fraktion organisierte eine Fotoaktion, um auf das dringende Gebot des Nuklearwaffenverbots aufmerksam zu machen (siehe Foto).
Viel beachtet war die Entscheidung zur Abschaffung der Zeitumstellung, für die sich das Parlament mit gedämpftem Nachdruck entschied. Nun soll die Kommission nochmal prüfen und dann ist die Zeitumstellung vielleicht irgendwann Geschichte, obwohl offen ist, ob wir dann immer die Normal- oder die Sommerzeit haben werden.
Martina sprach am Rande des Plenums am Dienstagnachmittag auf Initiative ihres Fraktionskollegen Josu Juaristi aus dem Baskenland auf einer Pressekonferenz, auf der gemeinsam mit Vertretern aus Afrin ein Appell für Frieden und Dialog vorgestellt wurde, den bis zu diesem Zeitpunkt schon über 100 Parlamentarierinnen und Parlamentarier unterschrieben hatten. Entsprechend waren auch Sozialdemokrat*innen, Grüne und auch Vertreter der EKR auf der Pressekonferenz beteiligt.
Inzwischen dreht Erdoğan die Schraube weiter und der Krieg in Afrin soll, geht es nach der Türkei auch Richtung Manbidsch ausgeweitet werden. Martina Michels kommentierte diesen Wahnsinn.
Am Dienstagabend in der Plenumswoche, gleich nach der Pressekonferenz für Afrin gab es eine Plenumsdebatte mit einem Resolutionsvorschlag zur Lage der Menschenrechte in der Türkei, der letztlich auch vom ganzen Parlament getragen wurde. Martina nutze ihre Redezeit, um vor allem die Hausaufgaben der EU-Mitgliedstaaten anzusprechen, die mit EU-Türkei-Deal und Waffenexporten selbst eine zweifelhafte Verantwortung für das antidemokratische Schalten und Walten der AKP-Regierung in der Türkei mittragen.
Einstimmig beschloß das Europaparlament einen fraktionsübergreifenden Antrag, in dem die Vereinigten Staaten nachdrücklich aufgefordert werden, ihre Entscheidung der Einbehaltung der Hälfte ihrer bereits zu gesagten Hilfsgelder für die Hilfsorganisation UNRWA zu überdenken und ihre geplante Beitragszahlung an das Hilfswerk in voller Höhe zu leisten.
Eine weitere Debatte zog sich durch mehrer Aussprachen in Brüssel. Dabei ging es immer wieder um „kluge Einsparungen“ im EU-Haushalt, wie Juncker es nannte. Die Kohäsionspolitik wird dabei zu einem empfindlichen Poker, der unsere allergrößte Aufmerksamkeit verlangt, denn es sieht alles so aus, als ob hier ordentlicher Druck jeder konstruktiven Opposition in Brüssel, aber auch in Berlin demnächst besonders vonnöten ist. Martina Michels und Nora Schüttpelz haben die Eckdaten des Debattenstandes schon mal festgehalten.
Mit einer kleinen Anfrage rückten in der Plenumswoche Abgeordnete der Kommission auf den Leib. Es geht einmal mehr um Abgasskandale und das Verhalten der Politik, hier endlich für Leib und Leben von Mensch und Tier zu sorgen.
Regionalpolitik nach 2020
Kohäsionspolitik ist das wichtigste Instrument der EU, um den Solidaritätsgedanken zu realer Politik zu machen, um in Arbeit, Bildung, Umweltschutz, nachhaltiges Wirtschaften und Innovation für alle zu investieren, um das grenzüberschreitende Zusammenleben und -arbeiten zu befördern. Doch die Zukunftsdebatte der Kommission hält auch ganz andere Szenarien für möglich, die Martina Michels absolut nicht teilt.
„Hat Europa noch eine Zukunft“
lautete der Titel eines Bildungsseminars von ver.di, zu dem Martina eingeladen war, als Europaabgeordnete Einschätzungen und Vorschläge einzubringen. Sie traf sich dazu am vergangenen Donnerstag mit Betriebs- und Personalräten und anderen aktiven Gewerkschafter*innen in Berlin. Es ging um aktuelle Herausforderungen an die EU und Zukunftsperspektiven, die Macron’schen und Juncker’schen Reformvorschläge – aber nicht nur. Martina hatte letztlich viele Fragen zu beantworten: von der Angleichung der sozialen Sicherungssysteme, der Frage nach der Konkretheit linker Forderungen, Vorstellungen zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung, Fragen nach dem Lobbyregister der EU, zum Brexit und zur Verstärkung „nationaler“ Tendenzen in der EU. Auch die gerade abgelehnten transnationalen Listen und die Arbeitsweise der GUE/NGL-Fraktion waren von Interesse. Einen großen Komplex machte – nicht nur im Zusammenhang mit der Lage von Flüchtenden – die Situation in der Türkei aus. Hier konnte Martina die aktuellen Erfahrungen vom HDP-Parteitag, aber auch von Prozess- und Wahlbeobachtungen der vergangenen zwei Jahre einbringen. Das Gespräch endete mit der hoffnungsvollen Frage: „Und, kandidierst Du wieder?“