Ein Viertel der Menschen in Europa lebt an oder unter der OECD Armutsgrenze!

Thomas Händel, Verfasser. – Frau Präsidentin! Herr Kommissar! Der Beschäftigungsausschuss hat sich erneut mit der wachsenden Ungleichheit in Europa befasst. Sie wächst seit Jahren ständig und war noch nie so krass – und zwar seit 1961. Das sage nicht ich, das sagt die OECD. Das wird diejenigen – auch hier im Haus – nicht beunruhigen, die gleicher sind als andere. Wir sollten aber nicht nur beunruhigt sein, sondern regelrecht entsetzt.

Die reichsten zehn Prozent haben 9,6 fach höhere Einkommen als die ärmsten zehn Prozent. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen 50 Prozent der Nettovermögen – die ärmsten 40 Prozent gerade mal drei Prozent. Bergab ging es nicht nur mit den Ärmsten – bergab ging es mit den unteren 40 Prozent der Bevölkerung! Ein Viertel der Menschen in Europa lebt an oder unter der OECD Armutsgrenze. Dieses Europa ist drauf und dran, seine Glaubwürdigkeit bei einer wachsenden Zahl von Menschen zu verspielen – mit allen bereits jetzt schon sichtbaren politischen Folgen.

Aber nicht nur das: Die wachsende Ungleichheit schädigt alle. Denn nicht nur die sozialen und politischen Probleme nehmen dadurch zu, sondern auch die ökonomischen Probleme. Dies ist einem inklusiven und nachhaltigen Wirtschaftswachstum abträglich. In internationalen Organisationen wächst die Übereinstimmung: Die Zunahme der Einkommensungleichheit und der Vermögensungleichheit muss angegangen werden. Die OECD schlussfolgert: „Die Herausforderung besteht demnach darin, geeignete Maßnahmenpakete zu finden, die sowohl wachstumsfreundlich sind, als auch zu einer Verringerung der Ungleichheit beitragen.“

Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der auch soziale und makroökonomische Maßnahmen umfasst. Denn die Auswirkungen der asymmetrischen Krisenschocks betreffen letztlich alle Länder. Die Vorschläge zur Bekämpfung dieses Problems sind vielfältig – angegangen wurden sie bisher nicht. Es wird vorgeschlagen, die Qualität sozialpolitischer Instrumente wie der Arbeitslosenversicherung zu verbessern. Es wird vorgeschlagen, Mindestlöhne zu erhöhen, und zwar nicht nur auf Länderebene, sondern auch ein Niveau auf europäischer Ebene zu schaffen. Es wird vorgeschlagen, bessere Sozialleistungen zu schaffen – zum Beispiel für die soziale Situation von Alleinerziehenden. Und es besteht seit längerem der Vorschlage, mehr Arbeit zu schaffen, von der man eigenständig armutsfrei leben kann, statt immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Die Kommission scheint verstanden zu haben – der jetzt vorliegende Vorschlag für eine Säule sozialer Rechte ist durchaus zu begrüßen. Ich sage aber dazu: Schöne Überschriften werden nicht reichen.

Der Beschäftigungsausschuss fragt: Erstens: Ist die Kommission der Auffassung, dass es sich in ihrem Arbeitsprogramm 216, in dem sie die Ungleichheit als große Herausforderung bezeichnet, in ausreichendem Maße mit dem Rückgang des Wachstums infolge zunehmender Ungleichheiten unter den Unionsbürgern auseinandersetzt, und die Notwendigkeit sieht, eine nach oben gerichtete soziale Konvergenz voranzutreiben?

Zweitens, falls ja: Kann die Kommission die entsprechenden Politikbereiche des Programms näher erläutern? Und drittens: Welche Maßnahmen und spezifischen Strategien wird sie in ihrem nächsten Arbeitsprogramm vorschlagen, mit denen sie durch Verringerung der Ungleichheiten und Verbesserung der nach oben gerichteten sozialen Konvergenz ein inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum fördern will?

Ich bin fest davon überzeugt, Europa braucht eine sozialstaatliche Verfassung. Wir brauchen ein Europa mit sozialer Gerechtigkeit, mit guter Arbeit, von der man eigenständig und armutsfrei leben kann, guter Bildung für alle, mehr öffentlicher Daseinsvorsorge und ökonomisch wie ökologisch nachhaltiger Wirtschaft. Ein unsoziales Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Kommissar, ist zum Scheitern verurteilt – mit verheerenden Folgen. Ein soziales Europa wird dagegen allen gut tun – den Menschen und der Wirtschaft.