Eine Bühne für Ungarns Demokraten
Linksfraktion drängt auf Befassung des EU-Parlaments mit Politik der Orbán-Regierung.
nd: In der kommenden Woche beschäftigt sich das Europaparlament mit der Entwicklung in Ungarn. Was wirft das Parlament Budapest konkret vor?
Scholz: Die Vorwürfe sehr vieler Mitglieder des Europäischen Parlaments betreffen vor allem zwei Themenkomplexe. Zum einen die Verabschiedung der neuen ungarischen Verfassung, die am 1. Januar in Kraft getreten ist, und zum anderen verschiedene Verfassungszusätze. Im Hinblick auf die Verfassung geht es um die Verletzung der Werte nach Artikel 2 des EU-Vertrages, konkret die Verletzung von Werten wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Handfest äußert sich dies in der Beschneidung der Rechte von Minderheiten, wie z. B. der Roma. Aber auch in der Behinderung der demokratischen Opposition und deren Medien oder auch in der Arbeitsgesetzgebung.
Was plant das Parlament als Reaktion auf das nicht umgesetzte Urteil zum Mediengesetz, das die Pressefreiheit einschränkt, und die Verfassungsänderung?
Unsere Fraktion der GUE/NGL, aber auch die der Sozialdemokraten, der Grünen und der Liberalen wollen ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 7 des EU-Vertrages auf den Weg bringen. Bei Feststellung einer eindeutigen Gefahr und schwerwiegender Verletzungen der Werte der EU können Mitgliedschaftsrechte ausgesetzt werden.
Wie positioniert sich die Linke zu den Vorgängen in Ungarn?
Die Linke hat sich im EP nicht erst jetzt mit demokratischen oppositionellen Kräften Ungarns solidarisiert. Bei Überfällen auf Roma oder der Ausbreitung rechtsextremer Gewalt im Land haben wir versucht, demokratische Gegenwehr zu unterstützen. Wir werden in der kommenden Woche in Straßburg auf eine Befassung des EP mit diesen Themen bestehen und vor allem die Frage der Grund- und Menschenrechte sowie der demokratischen Meinungsäußerung aktiv in die Debatte tragen. Darüber hinaus plant die GUE/NGL, eine Delegation nach Ungarn zu schicken, um sich ein direktes Bild von der Lage »vor Ort« zu machen, vor allem aber auch, um ins Gespräch mit den dortigen kritischen Kräften zu kommen und diese zu stärken. Auch über Einladungen ins EP wird nachgedacht, sodass diesen Stimmen eine Plattform und eine Tribüne gegeben werden kann, von der aus sie auch deutlicher hörbar wären.
Die Regierung von Viktor Orbán ist demokratisch gewählt. Sind – mögliche – Sanktionen oder Verurteilungen dann nicht eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes?
Ja, sofern die Sanktionen und Verurteilungen den demokratischen Willen des ungarischen Volkes nicht respektieren. Der Philosoph und Journalist Gáspár Miklós Tamás hat es unlängst auf den Punkt gebracht, wenn er sagt: Die Demokratie durch undemokratische Mittel von außen in die Knie zu zwingen, ist durch nichts zu rechtfertigen. Deshalb: Notwendig sind vielmehr eine Solidarität und ein Austausch mit den demokratischen Gruppen in Ungarn. Gleichwohl bleibt natürlich die langfristige Perspektive auf unserer Agenda. Wie soll mit demokratisch gewählten Körperschaften umgegangen werden, wenn diese die Demokratie mit Füßen treten? Die EU kodifizierte bindend die Charta der Grundrechte der Europäischen Union für alle Mitgliedsstaaten; nur Polen und das Vereinigte Königreich haben sich ausgenommen. Der Umgang mit demokratisch gewählten autoritären Regierungen bleibt eine Herausforderung, deren Lösung wir uns als Linke auch aktiver stellen müssen.
Schritte gegen Regierungen in der EU waren in der Vergangenheit nicht sehr erfolgreich – siehe Österreich in Zeiten der FPÖ-Mitregierung. Welche Chancen räumen Sie dem Vorgehen der EU gegen Budapest ein?
Solange es »nur« um Menschenrechte und Pressefreiheit ging, waren die Anstrengungen des Europäischen Parlamentes nur verbaler Art. Die Chancen auf erfolgreiche Veränderungen nationaler Politik waren daher auch gering. Allerdings wird durch das neue Notenbankgesetz die, im wahrsten Sinne des Wortes, Verabschiedung von »der Republik«, um die währungspolitische und finanzielle Dimension erweitert. Das kann Chancen auf einen Kurswechsel in dem genannten Sinne erhöhen, verweist jedoch zugleich auf die grundlegende Problemlage in der gegenwärtigen Verfasstheit der EU. Was eigentlich nur eine Dimension im Handlungsraum ist, wird zum alleinigen Handlungsraum erklärt.
National- und rechtskonservative Kräfte scheinen in Europa auf dem Vormarsch zu sein, bis in die Regierungen hinein. Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung?
Eine der Ursachen dürfte zweifellos die Tatsache sein, dass »die Krise« eigentlich eine systemische Krise ist. Das Vertrauen vieler Menschen, dass die herkömmlichen Machtstrukturen politischer Parteiendemokratie sie in Krisenzeiten besser schützen können, schwindet angesichts der extremen sozialen Belastungen und Ungleichheiten, wie sie in Griechenland, Portugal, Spanien oder eben auch Ungarn zu sehen sind. Portugal ist z. B. auf den sozialen Stand vor der Revolution von 1974 zurückgefallen. Das beobachten wir in Mittel- und Osteuropa ebenso wie in Nord- oder Westeuropa. Und hinzu kommt, dass in Ungarn, aber auch in Rumänien oder Bulgarien, die in den Transformationszeiten betriebenen gesellschaftspolitischen Entwicklungen für viele Menschen soziale Verarmung bedeuten und zugleich eine extrem gewachsene Spaltung der Gesellschaften in Arm und Reich. Dies gibt vor dem Hintergrund fehlender demokratischer Verwurzelungen nationalen und rechtskonservativen Kräften erheblichen Aufschwung. Und dies wirkt seinerseits auf die Krisenprozesse zurück.
Ist dieser Prozess eingebettet in eine generelle Renationalisierung und »Entmachtung Europas«, wie sie insbesondere mit der Krise forciert wurde?
Dem ist sicherlich zuzustimmen. Krisen erfordern unter Umständen schnelle Entscheidungen. Was aber gerade jetzt mit den Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von einem Gipfel zum nächsten durch die verantwortlichen politischen Akteure nicht hinreichend erwogen wird: Nicht alles in Krisenzeiten erfordert auch schnelle oder vereinfachte Entscheidungen. Vielmehr muss an die Ursachen der Krisen gegangen werden. Auch, weil sie die Chance auf grundlegende Veränderungen und alternative Entwicklungswege ermöglichen. Die Mitgliedsstaaten der EU verharren in einem Aktionismus, der die bisherige Logik neoliberaler Wirtschaftsentwicklung nicht wirklich antastet. Und der die nationalstaatlichen Räume als »Rettungsraum« definiert. Jeder wieder gegen jeden. Und »Europa« bremst ihre Interessen anscheinend aus. Die Krisenbewältigung erfordert vielmehr wieder mehr Gemeinsamkeit und Zusammendenken von Lebensrealitäten in Süd- und Nord-, West- und Osteuropa. Hier muss sich Deutschland deutlich der eigenen Verantwortung für eine Gemeinschaft der europäischen Gesellschaften stellen. Das gilt auch für Ungarn.
Aber gerade Deutschland und Frankreich drücken der EU bereits ihren Stempel auf – und umgehen dabei Verträge. Wie im Falle des Stabilitätsvertrags, der neben dem Lissabon-Abkommen bestehen soll. Wird dabei mit anderen Maßstäben gemessen als bei Ungarn?
Die Tradition der EU, keine einheitlichen Maßbänder in die Hand zu nehmen, ist sehr gefestigt. Gerne wird unsere Aufmerksamkeit auf die Verfassungsänderung in Ungarn gelenkt. Und während wir uns noch darüber empören, wie in einem EU-Mitgliedsstaat die Rechte der Opposition beschnitten werden, handeln Deutschland und Frankreich längst am EP vorbei Verträge mit nicht abschätzbaren Einschnitten aus. Demokratische Gestaltungsprozesse drohen so auf der Strecke zu bleiben.
Wie sehen Sie die Rolle insbesondere des EP bei der Bewältigung der Krise und der notwendigen Demokratisierung Europas?
Das Europäische Parlament wird sich entschieden der von Deutschland und Frankreich betriebenen Aushöhlung demokratischer Beteiligung und Kontrolle des EP und der nationalen Parlamente widersetzen müssen. Ich setze mich dafür ein, dass es auch genügend Mut aufbringt, bei wichtigen Entscheidungen auf einen angemessenen Entscheidungszeitraum zu bestehen, diesen einzufordern und zugleich notwendige alternative Entwicklungswege im Interesse der in Europa lebenden Menschen in die öffentliche Debatte zu bringen. Das nutzt auch der Demokratisierung in Ungarn.
Das Interview findet sich online auf den Seiten des neuen deutschland: http://www.neues-deutschland.de/artikel/215468.eine-buehne-fuer-ungarns-demokraten.html?sstr=helmut|scholz