Halbzeitwechsel im Europäischen Parlament

Erschienen am 10.01.2012 auf Freitag.de

Mit dem Jahreswechsel 2011/2012 hat die 7. Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (EP) ihre Halbzeit erreicht. Dieses Datum steht traditionell für die Neuwahl des Parlamentspräsidenten und seiner Stellvertreterinnen. Am 17. Januar ’12 steht in Straßburg die Wahl des EP-Präsidenten bzw. der EP-Präsidentin für die zweite Hälfte dieser Legislaturperiode auf der Tagesordnung.

Jedes der 736 Mitglieder des Europäischen Parlaments hat das Recht, sich um dieses Amt zu bewerben. Aber nur einer oder eine wird in dieses Amt gewählt.

Es gibt zwei Wege zu einer Kandidatur: Man wird von seiner eigenen Fraktion als Kandidat nominiert oder aber man bewirbt sich selbst als unabhängiger Kandidat. Dazu sind allerdings Unterschriften von mindestens 40 Mitgliedern des EP nötig, die eine solche Kandidatur unterstützen.

Zunächst müssen sich also die Fraktionen des EP intern darüber verständigen, ob sie als Fraktion einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin ins Rennen schicken wollen oder nicht.

Am 23. Dezember 2011 nahm sich die „Junge Welt“ dieses Themas an. Ihren Beitrag überschrieb sie mit „Anpassung statt Selbstbewußtsein – Linke-Abgeordnete wollen Sozialdemokraten zum Präsidenten des Europaparlaments wählen und verhindern eigenständigen GUE/NGL-Antritt“. Dieser Titel vermag sicher die Erwartungshaltungen vieler JW-Leser treffen, er trifft aber eines nicht: Den Debattenverlauf in der GUE/NGL (www.guengl.eu) zum Thema und auch nicht deren Ergebnis. Solcher Art Ungenauigkeiten in der Berichterstattung der Jungen Welt sind nicht untypisch, verzichtet die Redaktion doch ganz im Sinne neoliberale Kostensenkungsphilosophie weitgehend auf journalistische Recherche und übernimmt Informationen oft ungeprüft. Weshalb sollte man auch aufwändige Recherchen vornehmen, wenn man schon eine Meinung hat. Jedenfalls behauptet der JW-Artikel, sechs der acht Abgeordneten der Linken im EP unterstützten den sozialdemokratischen Kandidaten Martin Schulz, ohne die betroffenen Abgeordneten je nach ihrer Position zum Thema befragt zu haben. Weiter suggeriert die Artikelüberschrift, die sechs hätten „einen eigenständigen GUE/NGL-Antritt“ verhindert.

Passiert ist folgendes. Kurz vor Jahresende hat sich der spanische Europaabgeordnete Willy Meyer Pleite (Izquierda Unida) als möglicher Kandidat der GUE/NGL für das Amt des Parlamentspräsidenten ins Gespräch bringen lassen. Das ist das gute Recht eines jeden MdEPs. Auf ihrer Fraktionssitzung vom 13. Dezember ’11 hat die GUE/NGL dieses Thema dann diskutiert. Was sich bereits im Vorfeld abzeichnete, wurde auf dieser Fraktionssitzung offiziell bestätigt: Eine sehr große Mehrheit (rund 3/4) der Mitglieder hat sich im Rahmen der Debatte deutlich gegen einen GUE/NGL-Antritt ausgesprochen. Das ist eine solide demokratische Entscheidung. Als Kandidat der GUE/NGL kann Willy Meyer Pleite daher nicht antreten. Es bleibt ihm aber die Möglichkeit, als unabhängiger Kandidat ins Rennen zu gehen, wenn er das will und wenn er die dazu nötigen Unterschriften zusammenträgt.

Diese mit großer Mehrheit getroffene Entscheidung bedeutet hingegen ganz ausdrücklich keine Festlegung der GUE/NGL auf Martin Schulz als Präsidentschaftskandidat. Neben Martin Schulz treten noch zwei weitere Abgeordnete an: als unabhängige Kandidatin Diana Wallis (sie gehört der liberalen Fraktion) und als Kandidat der ECR Nirj Deva. In den Debattenbeiträgen wurde ebenfalls deutlich, dass die verschiedenen Länderdelegationen in der GUE/NGL unterschiedliche Positionen zu den zur Wahl stehenden Kandidaten und Kandidatinnen haben. Einige lehnen Martin Schulz strikt ab, andere hingegen nicht. Einige hegten auch Sympathien für die unabhängige Kandidatin Diana Wallis – sie tritt für mehr Transparenz ein und sie ist die einzige Frau, die sich derzeit um dieses Amt bewirbt. Aus diesem Grunde verständigte sich die Fraktion auf ein „free vote“, das heißt, es gibt seitens der Fraktion keine Festlegung auf einen der Kandidaten, sondern die MdEPs der GUE/NGL treffen ihre Entscheidung für einen Kandidaten ihrer Wahl frei und geheim, allein ihrem Gewissen verpflichtet.

Was hat nun die große Mehrheit der GUE/NGL dazu bewogen, sich gegen einen eigenen Antritt auszusprechen.

Die Minderheit, die für einen GUE/NGL-Antritt eingetreten ist, begründete ihre Position damit, dass die GUE/NGL sich auf diese Weise mit ihren Alternativen zur aktuellen Mainstream-Politik profilieren könne. Aus mehreren Gründen hat dieses Argument die Mehrheit der Fraktion jedoch nicht überzeugt. Um sich zu profilieren, hätte die Fraktion bereits nach der Sommerpause eine entsprechende Entscheidung treffen und mit der Profilierung beginnen müssen. Nun, wenige Tage vor Weihnachten und wenige Wochen vor der Wahl, so mehrere Länderdelegationen, sei es dafür zu spät.

Bei der Präsidentschaft des EP geht es aber auch weniger um eine parteipolitische Profilierung – wie etwa im Wahlkampf –, sondern um die Vertretung der Interessen des Europäischen Parlaments als ganzem gegenüber Rat und Kommission sowie gegenüber der Öffentlichkeit. Auch wenn er politisch weder neutral sein kann noch ist, hat der Präsident doch das Parlament mit all seinen Fraktionen zu repräsentieren. Und nach innen hin hat er für eine gute Arbeitsfähigkeit des Parlaments Sorge zu tragen. Das umfasst eben auch – trotz aller politischer Unterschiede – den Rahmen für eine sinnvolle Zusammenarbeit aller Fraktionen und Parlamentsmitglieder zu schaffen, um die nötigen parlamentarischen Organisationsabläufe sicherzustellen. Von seiner Aufgabenstellung her ist dieses Amt also wenig geeignet für eine zugespitzte parteipolitische Profilierung.

Und nicht zuletzt ist zu fragen, was denn die gemeinsamen linken Positionen sind. Gerade auch die BefürworterInnen eines GUE/NGL-Antritts verweisen immer wieder darauf, dass die Fraktion eine föderale ist und gerade sie haben wiederholt und nachdrücklich jede Form der Fraktionsdisziplin abgelehnt. Für eine Fraktionsdisziplin, wie sie in bundesdeutschen Parlamenten geübt wird, sind die politischen Positionen innerhalb der GUE/NGL tatsächlich zu unterschiedlich. In der gegenwärtigen Krise zeigt sich das besonders deutlich. Denn die europäische Linke – oder sollte man besser sagen: die Linken in Europa – haben es bis heute nicht geschafft, ihr Verhältnis zur EU zu klären und eine gemeinsame Position zur EU zu formulieren. In der GUE/NGL finden sich sowohl kritische Befürworter der EU, EU-Skeptiker als auch EU-Gegner, was sich in den divergierenden Positionen zur EU-Krise widerspiegelt. Welche Position die BefürworterInnen eines GUE/NGL-Antritts angesichts dieser Lage als die linke Position oder als die Position der GUE/NGL mittels einer Kandidatur profilieren wollten, ist bis heute ihr Geheimnis geblieben.

In der Tat ist die GUE/NGL in der Vergangenheit mit eigenen KandidatInnen angetreten. Auch deshalb, weil man das Auskungeln des Parlamentspräsidenten nicht widerspruchslos den beiden größten Fraktionen überlassen wollte. So ist zu Beginn dieser Legislaturperiode die langjährige schwedische MdEP Eva-Britt Svenson für die GUE/NGL angetreten (sie hat im Herbst 2011 ihr Mandat aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt). Mit 89 Stimmen konnte sie im Sommer 2009 54 Stimmen mehr auf sich vereinigen, als die GUE/NGL zu dem Zeitpunkt an Mitgliedern hatte. Das war ein Achtungserfolg.

Zwischenzeitlich hat sich die politische Lage dramatisch verändert. Rechte Parteien und Regierungen sind seit Beginn der Krise auf dem Vormarsch in den EU-Mitgliedsstaaten. Angesichts dessen stellt sich zumindest die Frage, ob es sinnvoll ist, dass sich die politischen Kräfte links der Mitte in alter Tradition weiter zersplittern und sich damit gegenseitig weiterhin schwächen, oder ob sie nach Möglichkeiten einer bedingten Kooperation suchen, um das weitere Vordringen rechter Politik zu stoppen.

Während der Präsidentenwahl zu Beginn der Legislaturperiode hat offensichtlich ein Teil der Grünen und Sozialdemokraten für Eva-Britt Svenson gestimmt. Zum einen, weil sie mit dem konservativen Kandidaten Jerzy Buzek nicht einverstanden waren und Eva-Britt Svenson eine gute linke Alternative zu Jerzy Buzek war, zum anderen, weil sie sicher sein konnten, dass die Position von Buzek aufgrund der konservativen Mehrheit im Parlament hinreichend abgesichert war. Für Martin Schulz sieht die Situation etwas anders aus. Er braucht in jedem Fall Stimmen aus dem konservativen Lager. Um aber nicht allein von den Konservativen abhängig zu sein, bemüht Martin Schulz sich um einen möglichst breiten Rückhalt bei den Parteien links der Mitte. Deshalb dürfte ein Kandidat der GUE/NGL in der gegenwärtigen Situation wohl kaum die zusätzlichen Stimmen erhalten, die Eva-Britt Svenson seinerzeit erhalten hat.

Vor diesem Hintergrund haben etliche Länderdelegationen die Befürchtung geäußert, dass ein GUE/NGL-Kandidat mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht einmal die 34 Stimmen (Anfang 2011 ist ein portugiesisches Mitglied der GUE/NGL zu den Grünen gewechselt) der eigenen Fraktion erhalten dürfte. Das aber würde sowohl den Kandidaten als auch die GUE/NGL als Fraktion beschädigen.

Deshalb das Nein zum GUE/NGL-Antritt.

Für die GUE/NGL wäre es sinnvoller gewesen, sich darum zu bemühen, einen der 14 Vizepräsidenten zu zu stellen, die ebenfalls im Januar ’12 neu gewählt werden. Diese Zahl ließe es ja zu, dass jede der 7 Fraktion im EP zumindest einen Vizepräsidenten stellt. Das die GUE/NGL keinen stellt ist eigentlich ein Skandal.

Darüber hinaus bleibt fraglich, wie sinnvoll die in der Jungen Welt geäußerte Kritik an Martin Schulz überhaupt ist. Sie macht deutsche innenpolitische Fragen zu einem wesentlichen Kriterium für die politische Beurteilung von Schulz. Eine solche Betrachtung blendet die Unterschiede zwischen der deutschen SPD à la Schröder, Clement, Steinmeier, Müntefering und Steinbrück einerseits und der Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament andererseits schlicht aus. Die Sozialdemokraten im EP liegen eben keineswegs alle auf der Linie von Schröder und Co. Und zum anderen wäre es viel sinnvoller und interessanter, statt deutscher innenpolitischer Maßstäbe europapolitische Maßstäbe heranzuziehen, um Martin Schulz politisch zu beurteilen.

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