Sinti, Roma und die endlose Flucht
Eine Anhörung in KölnBeitrag für „Disput“, November 2009
In der Europäischen Union leben zehn bis zwölf Millionen Sinti und Roma. Durch die Erweiterungen der EU in den Jahren 2004 und 2007 gehören sie nun zu einer der größten ethnischen Minderheiten in der EU – und zu einer der ärmsten und am schnellsten wachsenden Gruppen. In vielen Mitgliedstaaten sind Sinti und Roma mit massiver Diskriminierung konfrontiert, ihnen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Wohnraum, zu Bildung und zum Gesundheitswesen verwehrt, ganz zu schweigen von einer angemessenen politischen Repräsentation. In einigen Mitgliedstaaten haben sie weder die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft zu erwerben, noch über Papiere zu verfügen, die in vielen Fällen den Zugang zu Sozialleistungen erst ermöglichen.
Die Mehrheit der Sinti und Roma ist jünger als zwanzig Jahre, ihre Lebenserwartung liegt zehn bis fünfzehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt. Soziale Isolation, hohe Arbeitslosigkeit und schlechte Schulbildung schreiben die Perspektivlosigkeit und den Teufelskreis der Armut fort.
Die von Cornelia Ernst mit Sevim Dagdelen organisierte Anhörung »Die endlose Flucht – zur Situation der Sinti und Roma in Europa« thematisierte in Köln einerseits die europaweite Ausgrenzung und Stigmatisierung der Sinti und Roma und andererseits die tief sitzenden Vorurteile und Abwertungen, die fast schon als Teil des »kulturellen Codes« in Westeuropa bezeichnet werden müssen. Schon vor dem rassistisch geprägten Antisemitismus war der Antiziganismus (die Roma-Feindlichkeit) Teil des Selbstverständnisses europäischer Gesellschaften, und er ist es in vielen Fällen auch geblieben. Valeriu Nicolae vom Policy Center for Roma and Minorities in Bukarest zeichnete ein düsteres Bild von der in Europa alltäglichen Diskriminierung. Die sei geprägt von staatlich tolerierten Propagandaformen. Daher führte Nicolae zunächst einen Werbespot aus dem slowakischen Fernsehen vor, in dem eine Mutter versucht, ein Roma-Kind zu waschen. Erst mit dem Einsatz von »Ariel« gelang es ihr, aus dem dunkelhäutigen, schwarz gelockten Kind einen blonden, hellhäutigen Jungen zu machen.
Die Urteile und Legenden über die Sinti und Roma sind vielfältig. Nicolae zählte auf: nomandenhaftes Umherziehen, Heimatlosigkeit, Müßiggang, Faulheit, Bildungsunwilligkeit. Dies seien nur einige der Zuschreibungen, denen die Sinti und Roma ausgesetzt sind. Andererseits beherrschen »romantisierende« Bilder über das Leben der Roma die öffentliche Meinung – beispielsweise »frei sein«, »Ungebundenheit«, »große Musikalität«. Sowohl die negativen als auch die vermeintlich positiv-romantisierenden Stereotype sind in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften üblich und werden größtenteils nicht einmal als Vorurteile erkannt, sondern gelten als althergebrachtes verbrieftes Wissen.
Valeriu Nicolae hob hervor, dass in vielen südosteuropäischen Staaten auch vonseiten der Politik kein Interesse besteht, gegen diese Vorurteile und Zuschreibungen vorzugehen, denn in vielen dieser Mitgliedstaaten könnten Politiker mit Roma-feindlichen Äußerungen Wahlen gewinnen. Hinzu kommt die Abhängigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen von staatlicher Finanzierung, die deshalb nur schwache Partner im Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung sein können.
Costel Bercus vom Roma Education Fund in Budapest gab zu, dass es auch in vielen südosteuropäischen Staaten durchaus ausreichend Gesetze gegen die Ausgrenzung von Sinti und Roma gebe, doch lässt deren konkrete Umsetzung in die Realität zu wünschen übrig. Anschaulich beschrieb er, wie die tief verwurzelten Vorurteile den Erfolg von Integrationsprojekten behindern: Gut finanzierte Bildungsprojekte für Sinti und Roma bleiben wirkungslos und verfestigen eher noch bestehende Vorurteile, wenn die mit dem Projekt betrauten Lehrer selbst Vorurteile gegen Sinti und Roma haben und ihre »Sprösslinge« als defizitär und nicht-gleichwertig wahrnehmen. Es gibt keine »political correctness«, die zumindest in der öffentlichen Sphäre vor offen vorgetragenen Vorurteilen schützen könnte. Ivan Ivanov vom European Roma Information Office beklagte, dass kein Politiker, egal in welchem Mitgliedstaat der Europäischen Union, sein Amt aufgrund einer Roma-feindlichen Aussage verlieren würde. Die Vorurteile gegenüber Sinti und Roma seien derartig verwurzelt, dass sie auch in gut gebildeten Kreisen nicht als Vorurteile erkannt, geschweige denn sanktioniert werden.
Petra Rosenberg vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg und Udo Engbring-Romang von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung zeichneten die Geschichte der roma-feindlichen Vorurteile am Beispiel Deutschlands nach. Die Zuschreibungen und Bilder haben sich über Jahrhunderte nicht geändert – sie bestehen einfach fort. In Deutschland leben seit 6.000 Jahren Sinti und Roma, und dennoch werden sie nicht als gleichwertige Bürger der Bundesrepublik anerkannt. Sinti und Roma gehen normalen bürgerlichen Berufen nach, sind selbstverständlich integriert – und werden dennoch ausschließlich als »fahrendes Volk« wahrgenommen. Ebenso wenig gehört es schon zum allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein, dass neben den ermordeten sechs Millionen Juden auch 500.000 Sinti und Roma Opfer des Holocaust durch die Nationalsozialisten wurden.
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen nannte erschreckende Beispiele für die völlig selbstverständliche Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland. So entschied das Amtsgericht Bochum 1995, dass sogenannte »Zigeuner« als Nachmieter für eine Wohnung abgelehnt werden können, da diese Gruppe nicht wirklich als »sesshaft« bezeichnet werden kann und ihr auf diesem Gebiet keine Gleichbehandlung zuteil werden muss. Diese Entscheidung hat immer noch Bestand. In einem Polizeifachblatt von 2005 werden Sinti und Roma schlicht als »Sozialschmarotzer« bezeichnet. Laut einer Umfrage lehnen 58 Prozent der Deutschen Sinti und Roma als Nachbarn ab.
In den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen einerseits die existierenden Gesetze gegen Diskriminierung und für Gleichbehandlung angewendet werden. Andererseits muss eine gesamteuropäische Strategie entwickelt werden, um durch Bildungs- und Integrationsprojekte die diskriminierende Behandlung von Sinti und Roma ausgleichen zu können, so Cornelia Ernst. Mittlerweile haben die europäischen Institutionen die problematische Situation der Sinti und Roma wahrgenommen und darauf reagiert. So forderte im Dezember 2007 der Europäische Rat von den Mitgliedstaaten, alle Mittel zu nutzen, um auch eine bessere Eingliederung der Roma in den Arbeitsmarkt zu erreichen.
In seiner Entschließung vom Januar 2008 verurteilte das Europäische Parlament »auf das Schärfste und in aller Deutlichkeit« alle Formen von Rassismus und Diskriminierung der Roma und forderte die Kommission auf, eine europäische Rahmenstrategie für die Eingliederung der Roma auszuarbeiten. Jedoch beklagte Ivan Ivanov vom European Roma Information Office während der Anhörung, dass es zwar in den letzten Jahren drei Resolutionen des Europäischen Parlaments zur Situation der Roma gegeben hätte, aber darauf nie wirksame Maßnahmen gefolgt wären. Er hält es für sinnvoller, sich für die Umsetzung der bereits bestehenden Gesetze stark zu machen. Dies wird allerdings langfristig nur gelingen, wenn die negative Darstellung der Gruppe der Sinti und Roma in den Medien aufhört, so Udo Engbring-Romang. Beispielsweise verbietet der Codex des deutschen Presserates die Benennung der ethnischen Zugehörigkeit bei einer Straftat, doch die Realität sieht oft anders aus. 2008 erließ der hessische Innenminister die Anweisung zu Schulungen, doch nun wurden in einem Teil der Presse und der Verwaltungen neue Begriffe eingeführt, um die Ausgrenzung und Kriminalisierung der Sinti und Roma weiter zu betreiben: Landfahrer, MEM (Mobile ethnische Minderheit) etc.
Cornelia Ernst ist Europaabgeordnete, Manuela Kropp arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Cornelia Ernst im Europäischen Parlament in Brüssel.