Martinas Woche 8_2024: Bildung gegen Rassismus – Europa vor den Wahlen
Bildung gegen Rassismus – Plenarfokus – Spitzenkandidaten zur EU-Wahl – Türkei vor den Kommunalwahlen – Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
In der kommenden Woche werden alle Abgeordneten wieder nach Straßburg reisen. Dort findet die drittletzte Plenarwoche in dieser Legislatur (2019 bis 2024) statt. Die regelmäßige parlamentarische Arbeit in den Ausschüssen und im Plenum endet dann etwas vorfristig wegen der Europawahlen rund um den 9. Juni 2024 schon Ende April. Gewählt wird noch immer in den Nationalstaaten. Die lang umstrittenen, viel diskutierten transnationalen Listen gibt es noch immer nicht. Dafür gibt es den europäischen-Spitzenkandidat*innen-Vorschlag für die EU-Kommission aus den europäischen Parteifamilien. Auch die Partei der Europäischen Linken hat an diesem Wochenende ihren Spitzenkandidaten aufgestellt, nachdem die Konservativen zum zweiten Mal Ursula von der Leyen ins Rennen schicken und die Sozialdemokraten mit Nikolas Schmidt, dem derzeitigen EU-Kommissar für Soziales und Beschäftigung, einen versierten und durchaus im weitesten Sinne linken Politiker vorgeschlagen haben.
Walter Baier wird Spitzenkandidat der Europäischen Linken für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten
Euroactiv kommentierte die vorgeschlagene Kandidatur Walter Baiers von der Europäischen Linken vor Kurzem etwas launig und auch ziemlich uninformiert:
„Die wahrscheinliche Ernennung des derzeitigen Parteivorsitzenden, der in Brüssel und im größten Teil Europas weitgehend unbekannt ist, deutet auf einen Mangel an Interesse und Enthusiasmus für das Spitzenkandidaten-Verfahren innerhalb der Partei hin.“
Walter Baier war nicht nur in den 2000er-Jahren Co-Vorsitzender der ältesten linken Partei in Europa, der KPÖ, und formte sie zu einer modernen, feministischen Partei. Er war auch Mitbegründer der Partei der Europäischen Linken 2004/2005 und viele Jahre Vorsitzender der europäischen Stiftung Transform! europe. Wenn auch sein Blick auf die EU eher analytisch geprägt ist und weniger durch parlamentarische Erfahrungen, so wird durch seine Wahl an diesem Wochenende in Ljubljana eine kluge linke Stimme in den aktuellen europäischen Auseinandersetzungen hoffentlich häufiger zu hören sein. Mit seinem freundlichen Wiener Dialekt wird er auch für die deutschen Wählerinnen und Wähler gut vernehmbar sein. Die unzähligen Baustellen europäischer Politik sind unübersehbar, an der Spitze auch geprägt von den globalen Verschiebungen in der Sicherheitspolitik, die durch die kommenden US-Wahlen und einem möglichen Präsidenten Trump viele Fragen aufwerfen, auf die Menschen nach der Pandemie und der Energiekrise im Zuge des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine auf jeden Fall Antworten suchen und Forderungen an Politikerinnen und Politiker formulieren. Auch sind weder die Klimakrise plötzlich verschwunden noch die europäischen Investitionsblockaden für einen wirtschaftlichen Wandel ohne eine fossile Energiebasis gelöst. Drängende Probleme sozialer Ungleichheit und globaler Ungerechtigkeit, fortschreitende Digitalisierung u. v. m. werden mit dem sichtbaren Demokratiedefizit in den Europäischen Institutionen kaum noch angegangen. Migration verstehen viele Parteien rechts von der Mitte und Regierungen der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten vorrangig nur noch als Problem, statt als Lösung. Deutschland entwickelt sich gerade zum politischen Dauerblockierer, wenn es um progressive Schritte geht, denken wie an die Blockade beim Verbrenner-Aus 2035, nun beim EU-Lieferkettengesetz und inzwischen auch bei der Richtlinie zur Regulierung der Plattformarbeit. Mit Walter Baier werden wir all diese Probleme fokussieren und auch Antworten geben, warum es eine Linke in Europa braucht.
Konferenz: Bildung gegen Rassismus
Am Donnerstag leitete Martina Michels das Auftaktpanel der Konferenz: Bildung, Inklusion und der Kampf gegen Rassismus, zu dem wir auch Luise Neuhaus-Wartenberg aus Sachsen begrüßen konnten. Sie ist Vizepräsidentin des Sächsischen Landtages und zugleich die bildungspolitische Sprecherin der linken Fraktion.
Die Perspektiven aus den drei EU-Mitgliedstaaten Zypern, Griechenland und Deutschland konnten einerseits unterschiedlicher kaum sein, spannten zugleich aber einen riesigen Bogen, was bildungspolitisch alles zu stemmen ist, wenn man inklusive Konzepte wirklich durchsetzen und tatsächlich niemanden in der Bildung zurücklassen will. Am krassesten waren hier die Berichte von Sofia Vlachou, der griechischen Koordinatorin der Bildung für Kinder von Geflüchteten, die – wenn überhaupt – unter gefängnisähnlichen Bedingungen stattfinden. Der kaum gewährleistete Zugang zu einfachsten Bildungsangeboten ist begleitet von einer grundsätzlich gesellschaftlichen Exklusion. Die Folgen derartiger Nichtintegration in der Infrastruktur von Bildung werden schwer zu beheben sein, von inklusiven Ansätzen in den Bildungskonzepten ganz zu schweigen. Doch auch die sehr grundsätzlichen Fragen, die Luise Neuhaus Wartenberg angesichts eines scheinbar intakten Bildungswesens in Sachsen ausbreitete, führten anschließend zu angeregten Debatten. Wenn Demokratie lehrbar ist, als Versicherung gegen rassistische Aufrüstung in unseren Gesellschaften, so verlangt dies tiefgreifende Bildungsreformen, die man aber nicht gegen die Lehrenden und die Lernenden gestalten kann. Wer die Konferenz im Ganzen nachhören will, kann dies hier tun.
Plenarfokus und Tagesordnung für die kommende Woche in Strasbourg
Erneut wird die Europäische Industriepolitik durch das zu verabschiedende STEP-Programm auf der Tagesordnung des Parlaments sein. Es begann als Tiger und landete als Bettvorleger, wie man so schön sagt. Denn die Finanzierung einer modernen Industriepolitik fällt nun so dürftig aus, dass sie all die in sie gesetzten Hoffnungen wie Ansiedelung, Sicherung des Strukturwandels, sowohl in der sozial-ökologischen als auch der digitalen Transformation, nicht wird einlösen können.
Ebenso werden in der kommenden Woche aktuelle Konflikte außerhalb der EU, u. a. der Krieg in Gaza und die offen gebliebenen Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan diskutiert. Mit Debatten zur Europäischen Sicherheitspolitik (Mittwoch ab 9 Uhr) und zur Erweiterungspolitik (Mittwoch ab 18 Uhr) werden auch zwei weitere Großbaustellen europäischer Politik die Plenartagung prägen. Weitere Themen findet ihr im Plenarfokus unserer Delegation und in der vollständigen Tagesordnung der Plenarwoche.
Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Der russische Angriffskrieg hat deutlich gemacht, dass sich die internationale Sicherheitslage komplett verändert hat, und sowohl analytisch als auch politisch die Chancen und die Durchsetzbarkeit von dringenden Abrüstungsstrategien neu ausgehandelt werden müssen. Denn eine gefährliche Aufrüstungsspirale begleitet auch diesen Krieg, der bis zum heutigen Tage nicht durch einen Waffenstillstand beendet werden konnte, dem anschließend Friedensverhandlungen folgen, die tragfähig und nachhaltig der Ukraine Sicherheitsgarantien liefern, und die Russland überzeugen können, aus seinem expansiven fossilen Kapitalismus und seinem imperialen Streben auszusteigen und es damit auch für eine friedliche Zukunft in einer gemeinsamen Weltgemeinschaft zurückzugewinnen. Abgeordnete der Linken haben sich angesichts des zweiten Jahrestages dieses grausamen Krieges speziell mit Deserteuren und deren Anerkennung durch die EU befasst.
Wir möchten angesichts dies Krieges auch an einen Aufsatz einer Linken aus Indien, Kavita Krishnan, erinnern, die mit geopolitischen Ansätzen einer linken Außenpolitik wenige Monate nach dem Kriegsbeginn 2022 abrechnet, In Ihrem Aufsatz „Multipolarität: das Mantra des Autoritarismus“ entwickelt sie, dass dieser Ansatz einen menschenrechtlichen Fokus und eine Politik von unten in den internationalen Beziehungen schlicht ausblendet, auch wenn man sicher realpolitisch die Zusammenarbeit der Regierungen der Länder in der UNO und anderen internationalen Organisationen begleitet.
Türkei vor den Kommunalwahlen
Eine kleine Delegation aus Norwegen, Schweden, Deutschland, Frankreich, dem Baskenland und Spanien fuhr vom 19. bis 21. Februar 2024 nach Istanbul, um mit Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Vertreter*innen der DEM-Partei, sowie mit Anwälten und Journalist*innen die politische Lage in der Türkei vor den Kommunalwahlen am 31. März 2024 zu erörtern und auch Solidarität zu zeigen mit einer politischen Opposition, die eingesperrt, verfolgt und damit handlungsunfähig gemacht werden soll. Konstanze Kriese war vor Ort und beeindruckt vom Mut der Anwälte Abdullah Öcalans, die weiterhin gegen die unmenschliche Isolationshaft arbeiten, aber auch Öffentlichkeit für diese Aktivitäten suchen. In einer Pressekonferenz erklärte die Delegation ihre Mitverantwortung für einen Druck des Europarats auf Erdoğans Politik gegen die politische Opposition und forderte das Ende von Isolationshaft, faire Prozesse und eine freie Ausübung politischer Mandate der demokratischen Opposition. Die Delegation machte zugleich darauf aufmerksam, dass eine engagierte Wahlbeobachtung Ende März 2024 von europäischen linken und demokratischen Kräften abgesichert werden muss.