9. November 1938: „Nie wieder ist jetzt!“
sagte die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi im Januar 2024 im Deutschen Bundestag und erinnerte damit auch an die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, die oft zu Schüler:innen gesagt hat:
‚Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt.‘
Immer weniger Zeitzeug:innen leben noch, um über die Gräueltaten und den Menschenhass zu berichten, um die Erinnerung an den Tod bringenden Faschismus Nazideutschlands lebendig zu halten.
Doch wie sieht es im Europaparlament aus, wenn der Kampf gegen Antisemitismus nicht gerade die aktuellen Tagesordnungen bestimmt, so wie es seit dem 7. Oktober 2023 mit dem ungeheuerlichen Massaker der Hamas und der anschließenden Eskalation des Nah-Ost-Konfliktes auch durch die Kriegsführung Netanyahus jenseits des humanitären Völkerrechts geschieht?
Schauen wir fast 10 Jahre zurück.
In einer kaum beachteten Anhörung des Kulturausschusses des Europaparlaments über Interkulturellen Dialog im September 2015 erläuterte Barry van Driel Studienergebnisse, die eine rasante Abnahme des Wissens über den Holocaust bei Jugendlichen in Europa offenbarten. Nur wenige Wochen nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 wird dann der Bericht über „Die Rolle des interkulturellen Dialogs, der kulturellen Vielfalt und der Bildung bei der Förderung der Grundwerte der EU“ verabschiedet. „Kampf gegen Antisemitismus“ sucht man im Bericht vergeblich. Nach den Anschlägen in Paris wurde in den vor allem auf eine Verschärfung der Innenpolitik gerichteten Debatten Antisemitismus einmal mehr auf einen außereuropäischen, islamischen Import reduziert. Im Bericht zum Interkulturellen Dialog wurde dann entschieden, dass Antisemitismus durch“… alle (n) Formen von Diskriminierung und Rassismus“ hinreichend beschrieben sei und damit keiner gesonderten Erwähnung bedürfe. Damit wurde damals ein Antrag der linken Abgeordneten abgeräumt, der wenigstens den Kampf gegen den Antisemitismus auch angesichts der damaligen aktuellen Entwicklungen im Bericht dezidiert erwähnt haben wollte.
Die parlamentarische Entsorgung des Kampfes gegen den Antisemitismus als politische Tagesaufgabe fand 2016 ohne jede mediale Aufmerksamkeit statt. Dies wiederholte sich auch 4 Jahre später in den respektableren Paragrafen der Geschichtsresolution des Europaparlaments vom 19. September 2019 (hier aufgearbeitet in einem Beitrag für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel). Der Kampf gegen den Antisemitismus wird auch in dieser Resolution nicht erwähnt, obwohl es hier dezidiert um den Beginn des 2. Weltkrieges geht.
Die Shoah zeigt uns, was passieren kann, wenn Hetze, Ausgrenzung und Hass gegen Andersdenkende, -gläubige, -liebende, -aussehende zum Alltag wird.
Als Linke in Europa stehen wir in der Pflicht des gelebten Antifaschismus. Wir stellen uns gegen jede Form von Geschichtsrevisionismus, von Relativierung der Nazi-Verbrechen, gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen Nationalismus und Faschismus.
Gerade hier im Europäischen Parlament, in dem Rechtsnationalist:innen, -populist:innen und -extremist:innen immer wieder gegen Andere hetzen und versuchen, die Erinnerung zu verfälschen und das Vertrauen in unsere Demokratien zu untergraben, wird auch Erinnerungs- und Geschichtspolitik zu einem wachsenden umkämpften politischen Feld.
Die entsetzlichen Ereignisse der vergangenen Tage in Amsterdam, aber auch das Anwachsen antisemitischer Straftaten mitten in Europa, vergegenwärtigt uns nochmals Primo Levi Mahnung: ‚Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.‘“
Es liegt an uns allen, geschlossen dieser Entwicklung entgegen zu treten, Antisemitismus, Rassismus und jegliche Menschenfeindlichkeit – an jedem Tag – zu bekämpfen, Erinnerungsstätten und aktive Auseinandersetzung zu finanzieren und viel öffentlichen Raum zu geben und auch mit diesen Mitteln für die Idee einer solidarischen Gesellschaft zu streiten.