Roma gehören dazu!

Die globale Entwicklungsagenda darf niemanden zurücklassen

Ein Kommentar von von Cornelia Ernst & Anna Striethorst anlässlich der Roma-Woche im Europäischen Parlament (18. – 21. März 2019)

 

 

Als 2015 die erste Verpflichtung zur weltweiten Bekämpfung der Armut – die Millenniums-Entwicklungsziele – endete, setzten die Vereinten Nationen den Prozess mit den Sustainable Development Goals (SDGs) fort. In der neuen Agenda wurden weitgehend dieselben Ziele festgelegt. Anders als zuvor wurden jedoch alle UN-Mitgliedstaaten, einschließlich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dazu aufgefordert lokal angepasste Pläne zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu entwickeln.

Das neue Prinzip „Niemanden zurücklassen“ versprach auch, die Vorteile der Entwicklung gleichmäßiger zu verteilen. In staatlichen Aktionsplänen sollte berücksichtigt werden, dass beispielsweise arme Frauen oder Menschen in ländlichen Regionen besondere Unterstützung, ungeachtet der Gesamtentwicklung eines Landes, benötigen. Heute, vier Jahre später, werden die Auswirkungen dieser Veränderungen sichtbar, nun da auch die europäischen Roma die Einbeziehung in den Rahmen fordern.

Diese Forderung ist gut begründet: Eine Studie der EU-Agentur für Grundrechte aus dem Jahr 2018 ergab, dass 27 Prozent der Roma in Haushalten leben, in denen eines oder mehrere Mitglieder im letzten Monat mindestens einmal hungrig ins Bett gehen mussten. Roma-Gemeinschaften in ganz Europa wird sauberes Trinkwasser und bezahlbare Energie, qualitativ hochwertige Bildung und Gleichbehandlung verweigert. Alle diese Bedürfnisse sind unter den 17 SDGs aufgeführt.

Die meisten EU-Mitgliedstaaten ziehen es dennoch immer noch vor, die soziale Eingliederung von Roma-Bürger*innen fast ausschließlich über den EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma anzugehen. Seit acht Jahren hat diese unverbindliche europäische Strategie kaum Auswirkungen auf das Leben und die Chancen von Roma gehabt. Abgeordnete des Europäischen Parlaments haben wiederholt das mangelnde Vorgehen gegen den Antiziganismus, den weit verbreiteten Rassismus gegen die Roma, kritisiert.

Die Ernüchterung in bezug auf den EU-Rahmen hat einige der Verfechter*innen der Rechte der Roma dazu veranlasst, über alternative Vereinbarungen wie die SDGs nachzudenken. Auf Grundlage eines kürzlich veröffentlichten Diskussionspapiers des European Roma Grassroots Organsations Network (ERGO) werden sich Aktivist*innen in der anstehenden Roma-Woche im Europäischen Parlament darüber austauschen, wie sie zukünftig zu den SDGs arbeiten können.

Eine wichtige Frage stellt sich zu den Möglichkeiten der Partizipation: Im Gegensatz zu anderen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft wurden (Pro-) Roma-Organisationen bei der Einrichtung der SDGs nicht konsultiert. Nun müssen die Bedürfnisse und Perspektiven der Roma zumindest in die laufende Umsetzung, die bis 2030 andauern wird, einbezogen werden.

Darüber hinaus müssen Regierungen in ganz Europa lernen, den wirtschaftlichen Aufstieg und die Gleichstellung der Roma im Kontext der globalen Entwicklungsagenda zu sehen.  Entsprechende Programme gehören nicht alleine in die Domaine von Sozialministerien, sondern sie müssen gemeinsam mit Regierungsstellen im Bereich der SDGs erarbeitet werden. Partnerschaft und enge Kommunikation innerhalb von Regierungen sowie zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft – wie in den SDGs vorgesehen – können allen beteiligten Akteur*innen helfen, die Last sich überschneidender Aktionspläne, Berichterstattungspflichten und Konsultationen zu bewältigen.

Ein solcher Prozess erfordert eine steile Lernkurve, hat jedoch immense Vorteile. Politiken bezüglich der Roma unter das Dach einer gemeinsamen Fortschritts-Agenda zu bringen, würde Regierungen helfen, erfolgreiche Instrumente und Modelle zu kopieren und über den traditionellen Arbeitsbereich „Integration der Roma“ hinaus zu denken.

Darüber hinaus wird der Fall der Roma zeigen, ob die europäischen Regierungen in der Lage sind, ein überholtes Konzept entwickelter und unterentwickelter Länder aufzugeben. Indem sie Armut und Ungleichheit in ihren Ländern als Teil eines gemeinsamen internationalen Kraftakts angehen, können diese Regierungen beginnen, die problematische Geber-Empfänger-Beziehung zum Globalen Süden zu überwinden, die auch die Millenium-Entwicklungsziele prägte.

Die erste Generation der Entwicklungsziele krankte zudem daran, dass die Ziele ohne größere Beteiligung festgelegt wurden, es wenige Verbindungen zwischen den verschiedenen Zielen und Akteuren gab und wichtige Bereiche wie die Klimagerechtigkeit außen vor blieben. Es brauchte eine zweite Phase – die SDGs – um diese Mängel auszugleichen. Aus diesem Lernprozess könnten die europäischen Regierungen nicht zuletzt wertvolle Lehren für die anstehende Gestaltung eines neuen EU-Rahmens zur Integration der Roma nach 2020 ziehen.

 

Cornelia Ernst ist Mitglied des Europaparlaments und unter anderem im Innenausschuss des Europarlaments vertreten (LIBE – Civil Liberties, Justice and Home Affairs) .

Anna Striethorst ist Europäische Programmleiterin des Ariadne-Netzwerks und  stellvertretende Vorsitzende von Sozialfabrik – Politische Analyse und Forschung e.V..

Am 20. März wird Cornelia Ernst hierzu eine Debatte im Europäischen Parlament mit Aktivist*innen, Politiker*innen und Betroffenen führen. Mehr Informationen zum Programm und Livestream finden sich hier.

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Roma included: The global development agenda must leave no one behind

 

When the first commitment for global action against poverty – the Millenium Development Goals – ended in 2015, the United Nations continued the process with the Sustainable Development Goals (SDGs). The new agenda set largely the same goals. Yet, other than before it called upon all UN Member States, including those in the European Union, to improve people´s lives through locally adapted plans. The new principle „Leaving no one behind“ promised as well that the benefits of development would be shared more equally. Governmental action plans should take into account that poor women or those living in rural regions for example might need special support, regardless of a country´s overall development.

Four years later, the impact of these changes are becoming visible as Europe´s Roma are demanding to be included in the framework, too. And they have a strong case: A 2018 study by the EU Fundamental Rights Agency found that 27 % of Roma live in households where one or more had to go to bed hungry at least once in the previous month. Roma communities all across Europe are denied clean drinking water and affordable energy, quality education and equal treatment. All of these goals appear among the 17 SDGs.

Most EU Member States still prefer instead to approach social inclusion of Roma citizens almost exclusively through the EU Roma Framework. Eight years into its existence, this non-binding European strategy has created little change in the lives and opportunities of Roma. Members of the European Parliament have at many occasions criticized the lack of action against anti-Gypsyism, the wide-spread racism against Roma.

The disillusionment with the EU Roma Framework has led some of those promoting the rights of Roma to think about alternative frameworks like the SDGs. Following a recent discussion paper by the European Roma Grassroots Organisations Network (ERGO), activists are going to exchange at the annual Roma Week in the European Parliament how to engage in future with the SDGs. One major question will be about participation: Unlike other civil society, (pro-) Roma organisations were not consulted during the establishment of the SDGs. Now the needs and perspectives of Roma must at least be included in the ongoing implementation, which will last until 2030.

Furthermore, governments across Europe must learn to see the economic advancement and the equality of Roma in the context of a global development agenda. Respective programs do not only belong in the domain of social affairs ministries but must be designed together with governmental bodies tasked with policies for development. Partnership and close communication within governments and between governments and civil society, as foreseen in the SDGs, can help all involved actors to cope with the burden of overlapping action plans, reporting obligations and consultations.

Such a process will require a steep learning curve but it holds immense benefits. Bringing Roma-related policies under a roof of a global tracking of progress will help governments to copy successful tools and models and to start thinking out of the box of traditional “Roma inclusion”.

Furthermore, the case of Roma will show if European governments can let go of an outdated concept of developed and underdeveloped countries. In tackling poverty and inequality in their countries as part of a joint international effort they could start to overcome the problematic donor-recipient relationship with the Global South that still shaped the Millenium Development Goals. The first generation of development goals suffered also from having been established without wider participation, lacking connections between different goals and actors and missing important areas such as climate justice. It needed a second phase – the SDGs – to overcome these flaws. The European governments could not least take important lessons from that learning process in the upcoming design of a new EU Roma Framework after 2020.

 

 

*http://ergonetwork.org/2019/03/roma-included-can-the-sustainable-development-goals-contribute-to-combating-antigypsyism-discussion-paper/

Cornelia Ernst is Member of the European Parliament and of the Committee for Civil LIberties (LIBE).

Anna Striethorst is deputy chair of Sozialfabrik, which provides policy analysis on social inclusion and equal treatment of disadvantaged groups.

On March 20 Cornelia Ernst will host a conference on that topic in the European Parliament with activists, politicians and concerned persons. More info on the programme can be found here.