Martinas Woche 40_2017

Strasbourg – Leipzig – Nordhausen – Berlin I Katalonien – Türkei – Ratsgipfel – Medienfreiheit – und ein Reisebericht der besonderen Art: Sturmbekanntschaften

Es gibt Plenarwochen und Plenarwochen. Manche vergehen wie im Fluge und sind vollgepackt bis an den Rand, andere sind zäh und wollen einfach kein Ende nehmen. Mit den Bildern aus Katalonien im Gepäck war es kein Wunder, dass das Europaparlament zum Auftakt der Plenartagung in Strasbourg für eine aktuelle Aussprache zur Lage in Spanien stimmte. Damit war immerhin die Hoffnung verbunden, dass die EU als Mediatorin für einen Dialog in den Konflikt geht. Außerdem stand die Vorbereitung auf den Gipfel des Europäischen Rates auf der Tagesordnung: Brexit, Digitalisierung, EU-Asyl- und Verteidigungspolitik, sowie die Beziehungen zur Türkei werden am 19. und 20. Oktober in Brüssel verhandelt. Unser Berliner Büro fuhr Donnerstag nach Leipzig zu einer Tagung des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit. Anschließend wurde das gesplittete Büro Michels von Xavier lahmgelegt und landete dank sozialer Netzwerke u. a. unerwartet in Nordhausen.

 

Strasbourg: Katalonien ohne Dialog? – Vorbereitung des Ratsgipfels – Türkeibeziehungen

Ganz ehrlich, Strasbourgwochen sind der Stress pur. Martina freute sich insgeheim ein wenig, dass keine Rede und kein vorgeplanter Medientermin im Kalender standen und nur einige Treffen am Rande des Geschehens auf sie warteten. Andererseits hielten uns die Ereignisse in Katalonien in Atem und es war von vornherein klar, dass diese Konfliktlage die Europäische Union mindestens genauso trifft, wie Brexit-Verhandlungen. Einerseits ist die Rats- und Kommissionsperspektive verständlich und nachvollziehbar, die davon ausgehen muss, dass Spanien Mitgliedsland der EU ist und damit die Regierung Rajoys der Ansprechpartner ist. Andererseits ist es nicht hinnehmbar, wenn in Konflikten, die nicht erst seit gestern virulent sind, sondern im Gegenteil auch unaufgearbeitete Geschichte des Franco-Regimes in sich trägt, letztlich durch Staatsgewalt in Spanien zur Eskalation geraten und dabei Grundrechte massiv verletzt werden. Nicht nur Demokratie und Dialog bleiben außen vor, auch Lösungen drohen, außer Reichweite zu geraten. Ada Colau, Bürgermeisterin Barcelonas, die mit podemos verbunden ist und der Unabhängigkeit durchaus kritisch gegenüber steht, hat sich mit einem viel beachteten Post auf Facebook an die EU, an Kräfte des Dialogs und der Vermittlung gewandt. Leider hat man bisher den Eindruck, dass der Ernst der Lage auf EU-Ebene unzulässig heruntergespielt wird. Entsprechend hinterließ die Aussprache am Mittwoch im Parlament Enttäuschung , vorausschauende Lösungsvorschläge des EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans blieben trotz Kritik am Vorgehen der Regierung Rajoys aus. 

Mit der Vorbereitung des Ratsgipfels werden einmal mehr die Beziehung zur Türkei auf dem Programm stehen und man hofft im gleichen Atemzug, dass es nicht nur um die Zollunionserweiterung und die Visaliberalisierung geht, sondern der unerträglichen Flüchtlingsdeal zur Disposition steht, ebenso wie die Befolgung der Haftbefehle via Interpol durch Mitgliedsstaaten. Wir erwarten die sofortige Aussetzung der Befolgung solcher Befehle und den Schutz türkischer StaatsbürgerInnen im Ausland, die ohne nachvollziehbare Anklagen, einfach nur weil sie Autoren oder Journalistinnen sind, verfolgt werden.

 

Leipzig: „Defending Journalists under Threat“

Am Donnerstag fuhren Ulrich Lamberz und Dana Ringel, die bis zum Jahresende unser Team verstärkt, nach Leipzig zu einer Konferenz des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit ECPMF. Dana Ringel hat für uns den Tag mit Ergänzungen von Uli Lamberz unter dem Titel „Hindernisse und Möglichkeiten des freien Journalismus in Europa“ zusammengefasst. „Insbesondere“, so erfahren wir aus dem Konferenzbericht: „kam auf der Konferenz die Kluft zur Sprache, die zwischen dem demokratischen Anspruch, des in der europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Recht auf freie Meinungsäußerung und der, für Journalisten und Berichterstatter zunehmend schwieriger werdenden tatsächlichen Arbeitsrealität im europäischen Kontext besteht.“ Einmal mehr wurden die Forderungen erhärtet, dass Europäische Standards vom Whistleblowerschutz bis zur Kooperation der Mitgliedsstaaten bei der Sicherung von Medienfreiheit überfällig sind.

 

Von Leipzig nach  Berlin: Save The Date: 8.12.2017 

Neue Wege für freien Journalismus? Was Exilmedien und soziale Netzwerke für die Pressefreiheit in der Türkei bewirken können. – Fachgespräch und Podiumsdiskussion, Berlin – Orte: Europäisches Haus und Europäischer Salon – ganztägig

Das Treffen in Leipzig galt auch der Vorbereitung von Veranstaltungen, die Martina Michels am 8.12.2017 in Kooperation und weitgehender konzeptioneller Mitverantwortung mit dem in Leipzig beheimateten Medienfreiheitszentrum und dem Neuen Deutschland plant. Im Fokus steht dann einmal mehr die Lage von Journalistinnen und Journalisten in der Türkei. Andererseits werden praktische Lösungsansätze vorgestellt, Medienfreiheitsinitiativen, die die Arbeit und die Öffentlichkeit für unterdrückte Medien im Exil ermöglichen und Aufenthaltsmöglichkeiten für Journalistinnen und Journalisten organisieren.

 

Lange Wege nach Berlin oder Warum Nordhausen zu unrecht nur für Doppelkorn berühmt ist

Kurz sind Odysseen selbst in ausufernden Erzählungen. Durch den Sturm Xavier endete die Rückfahrt für Martina Michels und Konstanze Kriese am Donnerstag Abend in Kassel. Hotels und Unterkünfte waren längst mit den vor uns angekommenen Fahrgästen belegt. Die Bahn stellte Aufenthaltszüge bereit. Das THW rückte mit Getränken, Essen und Decken an. Die Akkus auf den elektronischen Kommunikationsgeräten gingen dem Ende entgegen. Die Kontakte zu unseren Leipziger KollegInnen und zu den Kindern in Berlin, ergaben: alle waren auf ungewissen Umwegen. Die Berliner hatten irgendwann über umgestürzte Bäume via Drahtesel oder zu Fuß nach Hause gefunden. Dana und Uli erging es wie uns. Nichts fuhr mehr nach Berlin, aber es gab erst einmal wenigstens Unterkünfte.

Ein Facebook-Post ob unserer Lage hatte die Thüringer Landtagsabgeordnete und kulturpolitische Sprecherin Katinka Mitteldorf auf der Stelle veranlasst, uns ein Nachlager anzubieten und dafür aus Kassel abzuholen. Wir waren durchaus kühlen Kopfes bei aller Verunsicherung, Müdigkeit und den mageren, aber immerhin Irgendwie-Aussichten, die Nacht womöglich im Bahnhof zu verbringen und wussten für einen Moment nicht genau, ob wir auf ein derartiges Angebot überhaupt eingehen können, denn in Gefahr wollten wir auch niemand bringen. Katinka versprach uns umzukehren, wenn Xavier auch im Thüringer Wald sein Unwesen treibt. Sie schlug sich bis Kassel durch, sammelte uns ein und trotzdem: ein dicker Riss in der Frontscheibe verriet, hier lief nichts mehr wie gewohnt. 

Zwei wunderbare Bettchen und eine heiße Dusche warteten kurz vor Mitternacht auf uns in Nordhausen. Mit Katinka und Matthias, ihrem Mann, liefen wir nach dem Frühstück durch die Stadt im Südharz. Was sie kaum mehr bemerkten, sie wurden von der Hälfte der Passanten freundlich begrüsst und nebenbei erliefen wir die kürzeste Fußgängerzone der Welt, sahen die größten Kunstwerke, die je hochprozentigen Schnäpsen gewidmet wurden und spazierten in eine „Politikermeile“ im schönsten Fachwerkviertel Nordhausens, in der Abgeordnete verschiedener Parteien ihre Büros haben. Nebenbei waren die  Drähte zur Auskunft der Deutschen Bahn, zu Mietwagenfirmen und Autowerkstätten gespannt, während wir am Theater vorbei spazierten und Geschichten und Geschichte des Ortes lauschten, die beide Mitteldorfs insbesondere aus ihrer kulturpolitischen Perspektive lebendig ausbreiteten, als ob wir für diesen Tag zur besonderen Stadtführung angekündigt gewesen wären.  

Unsere Leipziger Kollegen rollten am Freitag nachmittag mit dem ersten Zug gen Berlin und wir saßen inzwischen zu dritt in einem Mietwagen, da Katinka nach all den Wirren drauf und dran war, weiteren Abenteuern zu lang geplanten Terminen in Berlin entgegen zu sehen. Nordhausen und diese besondere Begegnung mit den Mitteldorfs gehörten  zu diesem Zeitpunkt schon längst zu den aufregenden Erfahrungen, für die mensch mehr als dankbar ist. 

 

Berlin mit schlechten und guten Nachrichten 

Auch wir haben erst nach der Ankunft in Berlin so richtig mitbekommen, was der Sturm alles angerichtet hat. Es ist wirklich furchtbar,  dass so viele Menschen von diesen Naturgewalten im wahrsten Sinne des Wortes getroffen wurden. Richtig wütend macht eine dann die sexistische Aufmachung der BILD zum Tod der Journalistin für Internationale Politik, Sylke Tempel. Als „Gabriels Freundin“ ohne Namen und Achtung für die Lebensleistung der Expertin, die gerade von einem Treffen mit dem noch amtierenden Außenminister kam, zu schreiben, ist mehr als unterstes Regal, von der Verletzung aller journalistischen Standards ganz zu schweigen. Ihren Begleiterinnen, wovon eine weitere auch schwer verletzt wurde, wünschen wir, dass sie alles gut überstehen und wir möchten Sylke Tempels Angehörigen unsere Anteilnahme aussprechen.

Es gab auch gute Nachrichten, die meine Kollegin Sabine Lösung schon gestern kommentierte: Die Internationale Kampagne zur atomaren Abrüstung ICAN hat den Friedensnobelpreis erhalten. Unter den getwitterten Glückwünschen des Regierungssprechers Seibert hatten sich zurecht viele mit der Frage zu Wort gemeldet, wann denn Deutschland den im Juli 2017 in der UN-Generalversammlung verabschiedeten Vertrag zur Abschaffung aller Nuklearwaffen unterzeichnen wird.