Europäische Integration heißt MEHR Demokratie, Solidarität und transnationale Kooperation
Am 31. Januar 2013 lud die Rosa-Luxemburg Stiftung Hessen zu einer nicht ganz alltäglichen Veranstaltung nach Frankfurt am Main ein. Oskar Negt und Lothar Bisky diskutierten über die Frage „Europa wohin?“
Ausgangspunkt war zum einen Oskar Negts Buch „Gesellschaftsentwurf Europa“. Der Sozialphilosoph plädiert dafür, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Demokratie als die drei zentralen Säulen der Europäischen Einigung anzusehen. Diese Sicht ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt für eine moderne europäische Linke, wie sie der linke Europaabgeordnete, Kulturwissenschaftler und ehemalige Parteivorsitzende Lothar Bisky vertritt. Er sieht die Herausforderung, eine Europapolitik auf verschiedenen Ebenen zu vertreten, die an den alltäglichen den Problemen und Interessen der Menschen ansetzt. Seine der Debatte vorangestellten Überlegungen dokumentieren wir hier.
Europäische Integration heißt MEHR Demokratie, Solidarität und transnationale Kooperation
Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin lösten mit ihrem Beitrag „Kurswechsel für Europa. Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ im Sommer 2012 eine breite Diskussion aus. Auch wir, DIE LINKEN, fordern, dass das neue oder – besser gesagt andere – Europa demokratischer gestaltet wird. Der Ruf nach Vertiefung der europäischen Integration ergibt sich für die genannten Autoren „nicht nur aus der aktuellen Krise des Euroraums“. Er folge „gleichermaßen aus der Notwendigkeit, das Unwesen des gespenstischen Paralleluniversums, das die Investmentbanken und Hedgefonds neben der realen, Güter und Dienstleistungen produzierenden Wirtschaft aufgebaut haben, durch eine Selbstermächtigung der Politik wieder einzufangen“. Dies geht allerdings nicht ohne eine Vertiefung der Demokratisierung der EU und ihrer Institutionen: die Entwicklung einer aktiven Unionsbürgerschaft, die Stärkung der partizipativen Demokratie, die Verteidigung und Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente und des Europaparlaments und ihrer engen Kooperation, der Herausbildung neuer Formen transnationaler Kooperation zwischen den Bevölkerungen, die Durchsetzung der in der Europäischen Grundrechtecharta verankerten Grundrechte für alle in der EU lebenden Menschen und die Ausprägung einer wahren Solidarität. Es handelt sich also um höchst komplexe Vorgänge.
Gegenwärtig erleben wir tagtäglich die Selbstermächtigung der Herrschenden, die vorgeben, mit ihrer Politik die Interessen „ihrer“ Menschen zu vertreten, sich in Wirklichkeit jedoch schamlos als Lobbyisten bestimmter Wirtschafts- und internationaler Finanzgruppen erweisen. Deshalb reicht es auch nicht aus, die Finanzkrisen-Verursacher allein in Investmentbanken und Hedgefonds zu sehen und die wirtschaftlich und politisch Führenden, die Staaten, die Regierungen, die Entscheidungsträger in EU-Institutionen selbst auszublenden. Gemeinsam tragen sie die Verantwortung für einen in der Geschichte beispiellosen Ausverkauf des Öffentlichen. Das heißt Ausverkauf öffentlichen Eigentums und öffentlicher Güter wie Wasser, Bildung, Kultur, die drastische Reduzierung öffentlicher Haushalte insbesondere für die Bereitstellung öffentlicher und sozialer Leistungen sowie die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme, den Abbau ökologischer und sozialer Standards und Deregulierung („Flexibilisierung“) der Arbeitsmärkte. Begleitet wird alles durch ohrenbetäubende Lobgesänge auf die Privatisierung.
Uns bestürzt, in welchem Ausmaß im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise Menschenrechte gebrochen und Menschen in tiefe Existenzängste getrieben werden. Das „passiert“ sozusagen von oben her: durch amtliche Regierungsentscheidungen, durch Auflagen internationaler Institutionen wie IWF, EZB und EU-Kommission. Getrieben von den Interessen der internationalen Finanzmärkte zeigen sich die Regierenden unter Ausschluss der Öffentlichkeit ihre Waffen. Sie pokern sie um Macht und Einfluss, setzen sie sich gegenseitig unter Druck. Sie gehen taktische Bündnisse ein und kündigen diese wieder auf, wenn partikuläre Interessen erreicht sind. Sie weichen aus. Statt der der Eurokrise zu Grunde liegenden Wirtschaftskrise zu Leibe zu rücken, spielen sie auf Zeit und mit dem Leben und der Zukunft der Menschen in Europa, verkaufen sie die Ergebnisse dieses Schacherns als historisch oder zumindest als dramatische Rettungstaten. Nationale Parlamente dürfen die als alternativlos propagierten Gipfelergebnisse absegnen. Das Europaparlament wird oftmals in beschämender Unkenntnis (oder absichtlicher Missachtung?!) der ihm durch den Lissabonner Vertrag eigentlich verstärkt zustehenden Rechte durch die Regierenden düpiert. Dafür lieferte der die Entstehung des „Fiskalpakt“ ein drastisches Beispiel: Er wurde als Vertrag zwischen Regierungen von EU-Mitgliedstaaten geschlossen. Für seine Durchsetzung aber soll die EU-Kommission in Anspruch genommen werden, ohne dass auf EU-Ebene diese Form von Organleihe oder der Vertrag selbst durch das Europaparlament demokratisch legitimiert worden wäre. Dabei stellen die nationalen Regierungen gerade mit dem Fiskalpakt Weichen für weitere Kürzungen der öffentlicher Haushalte und damit oft auch Reduzierungen der Ausgaben für Soziales, Gesundheit, Bildung. Aufschrecken sollte eigentlich alle, die sich um das Zusammenleben der Menschen in der EU sorgen, die erkennbare Zunahme rechtsextremer, nationalistischer und gewaltbereiter Kräfte wie zum Beispiel der faschistischen Partei „Morgenröte“ in Griechenland, dem Land, in dem weite Teile der Bevölkerung am meisten unter dem Diktat der Sparzwänge leiden. „Fassadendemokratie“ ist geradezu eine liebevolle Umschreibung der Aushebelung von Demokratie und Solidarität. Von Werten also, zu denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten in allen offiziellen Debatten immer wieder plakativ bekennen.
In ihrem Beitrag benennen Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin mindestens fünf Fragen, die auch wir immer wieder diskutieren: Demokratie, soziales Europa, die EU als globaler Akteur, die Hauptmängel der Wirtschafts- und Währungsunion und die Finalität europäischer Integration. Wir betrachten Demokratie als Grundfrage emanzipativer Politik. Sie ist Grundvoraussetzung für solidarische, sozial und ökologisch nachhaltige Problemlösungen auf unserem Kontinent, zunächst in der EU. Dabei sind die Entwicklungen von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft zu beachten. War die politische Linke traditionell am Industrieproletariat orientiert, so hat sich mit der Digitalisierung daneben ein Informationsproletariat herausgebildet, das differenzierte Beachtung erfordert. Hinzu kommt, dass sich mit der Digitalisierung zugleich neue Formen der Produktion, Distribution, Speicherung, Bearbeitung und Rezeption von Information herausgebildet haben, die zu einer Revolutionierung der Mittel der Information und Kommunikation führten. E-Mail, Twitter, Facebook, Google, Wikipedia usw. stehen neben den traditionellen Medien für neue Möglichkeiten, die quer durch soziale und Altersgruppen genutzt werden. Satelliten sorgen für den globalen effektiven Nachrichtentransport. In der Tendenz kann man davon ausgehen, dass die Werkzeuge der Kommunikation mit dem Schulbeginn, teilweise davor, als Kulturtechniken angeeignet und vielseitig genutzt werden. Nicht zu übersehen sind allerdings soziale und kulturelle Differenzierungen hinsichtlich des Zugangs sowie der Qualität des Zugangs zu den differenten, auch den interaktiven Medien der Information und Kommunikation. Deutlicher vielleicht als anderswo zeigt sich in der digitalen Welt, die heutige Unmöglichkeit, der nationalen Beschränkung auf sich selbst, wird gleichzeitig klar, dass die Zugangsfrage, die Gerechtigkeitsfrage, mindestens die nach einem sozialen Europa ist. Mit dem „sozialen Europa“ meinen wir das Miteinander zunehmend selbstbestimmt in Würde lebender Menschen auf unserem Kontinent, zunächst in der EU. Es ist nicht zu übersehen, dass hier zu viel im Argen liegt, wenn in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist. Damit liegt seit Jahren ein sozialer Sprengstoff vor, dem die Regierungen offensichtlich nicht beizukommen in der Lage sind. Für viele Länder, auch die im Süden Europas, ganz zu schweigen von denjenigen in Mittel- und Osteuropa, ja auch für die Ostdeutschen, war mit dem der Beitritt zur EU die Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden. Daran, dass die Politik und die Realität in der EU diesen Träumen immer weniger gerecht wird, an den sozialen Problemen, droht das ganze Projekt zu scheitern, nicht am Euro.
Wir engagieren uns für eine EU, die als globaler Akteur menschliche Existenzfragen gerecht beantworten will. Deshalb haben wir in den 1990er Jahren unter anderem nicht einfach „Nein!“ zum Maastrichter Vertrag gesagt, sondern insbesondere „Euro SO nicht!“. Dies war keine Positionierung gegen eine gemeinsame Währung oder gegen weitere Integrationsschritte, sondern im Gegenteil für eine gemeinsame Politik zur Überwindung wirtschaftlicher Ungleichgewichte als Voraussetzung für das Funktionieren einer Währungsunion. Wir haben uns als Linke immer wieder dafür eingesetzt, dass die Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion so verändert werden, dass wirtschaftliche Entwicklung allen zugutekommt. Wir wollen nach wie vor die Wirtschafts- und Währungsunion untrennbar mit einer EU-weiten Friedens-, Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltunion ergänzen.
Diese Prämissen liegen unseres Erachtens auch heute einer Vertiefung der europäischen Integration zugrunde. Für uns geht es nicht primär darum, ob die EU andernfalls im Kampf um die globale Wettbewerbsfähigkeit und die globalen Märkte den Zugriff auf die Ressourcen unserer Welt das Nachsehen hätte. Für uns kommen zuerst die Menschen und die Sicherung bzw. Verbesserung der sozialen und ökologischen Lebensbedingungen, erst dann und zu diesen Zwecken geht es um den Euro, um dessen Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit. Die Regierenden in der EU sind oft weit davon entfernt, die Interessen der Menschen in den Vordergrund zu stellen. Das von ihnen praktizierte kurzfristige Krisenmanagement polarisiert immer mehr zwischen den verschiedenen Staatengruppen und zwischen den Bevölkerungen und treibt die Union an ihre Belastungsgrenzen.
Merkel und andere haben längst das Prinzip der Solidarität umgedeutet. Nicht nur mit den „Bankenrettungsschirmen“, auch in den Auseinandersetzungen um den Haushalt 2013, den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 und den Struktur- und Kohäsionsfonds dürfte das für alle deutlich geworden sein. Die Neoliberalen in Deutschland und Europa, verfolgen vor allem die Durchsetzung ihrer Ziele und damit der Interessen der nationalen und europäischen Wirtschafts- und Finanzmarktgruppen. Wo in wirtschaftlich guten Zeiten Marktliberalismus wenigstens noch mit sozialpolitischen Maßnahmen einhergeht, werden jetzt deren Errungenschaften mit dem „Krisenmanagement“ eingespart. „Strukturreformen“, auf die die Krisenstaaten in Europas Süden sich einlassen und die über kurz oder lang auch die Menschen in allen anderen Ländern treffen, sind kaum der richtige Begriff für schnöden Rückbau von Arbeitnehmerrechten („Flexibilisierung“) und des Wohlfahrtstaats insgesamt.
Die Linke in Deutschland hat sich bisher stets deutlich für eine Vertiefung der europäischen Integration ausgesprochen. Sie hat dafür auch Kriterien benannt: Eine europäische Integration, die dazu beiträgt, solidarisch zusammenzuleben, gemeinsam Natur und Umwelt zu bewahren, Menschen- und Bürgerrechte für jeden und jede durchzusetzen. Gilt das auch unter den Vorzeichen einer die EU in ihren innersten Festen erschütternden Krise? Haben jene Recht, die meinen, die Vertiefung der europäischen Integration drohe, die Fassadendemokratie zu befestigen? Drohte mit weiterer Übertragung von Souveränitätsrechten eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung?
Warum wird Integration eigentlich immer mit der Abgabe von Souveränitätsrechten gleichgesetzt? In diesem Sinne interpretieren doch Merkel und die anderen Regierenden die EU um. So wie sie auch von Solidarität reden, wenn sie bloß die Rettung der Banken und Finanzmärkte meinen. Lässt sich Integration nicht auch ganz anders denken und gestalten? Geht es nicht um einen solidarischen Ansatz, geht es nicht vor allem auch um engere Kooperationen, um transnationale Kooperation und Solidarität zwischen Bevölkerungen, Kommunen, Regionen, Staaten, sozialen, ökologischen, feministischen Bewegungen, Gewerkschaften? Die Übertragung von Souveränitätsrechten allein bzw. „an sich“ sagt wenig aus. Eine soziale Union zum Beispiel wird niemals möglich sein, wenn nicht der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung, für Mindestlöhne und Mindesteinkommen als gemeinsamer europäischer Kampf geführt wird. Sonst kommen Menschen in ost- und südosteuropäischen Ländern noch über die folgenden Generationen hinweg nicht aus der Armut heraus! Dazu braucht es aber gemeinsame Strategien, gemeinsame Kriterien, soziale und ökologische Mindeststandards. Das hat letztlich mit mehr Souveränitätsrechten für die Menschen zu tun und mit einer anderen, besseren Politik auf allen Politikebenen. Es bleibt natürlich wichtig, Hartz IV in Deutschland zu bekämpfen. In der Zwischenzeit darf aber auch nicht zugelassen werden, dass die Prinzipien von Hartz IV, das deutsche Modell von Fordern und Fördern, eine repressive Beschäftigungs- und Sozialpolitik allen anderen EU-Mitgliedstaaten aufgezwungen werden. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters in anderen EU-Staaten könnte durchaus als „gelungenes“ Beispiel für deutsche Machtpolitik gelten. Wir könnten uns noch wundern, wie schnell maßgeblich von der Bundesregierung über die EU initiierte Neuregelungen zur Arbeitszeit, zur Liberalisierung von öffentlichen Dienstleistungen die Menschen in der Bundesrepublik wie ein Bumerang treffen werden, wenn es nicht gelingt, über nationale Grenzen hinausgehenden Widerstand zu mobilisieren.
Eine wirkliche politische und Sozialunion bräuchte durchaus eine weitergehende und bessere (verfassungs-) rechtliche Grundlage. Sie müsste auf gemeinsame Strategien und verbindliche Ziele, Kriterien, Standards, gemeinsame Definitionen und vergleichbare Daten, auf Transparenz und Monitoring- und auf Sanktionen setzen. Sie wird nur möglich werden, wenn sie gleichzeitig mit einer Demokratisierung der Union verbunden wird und die in den EU-Verträgen festgeschriebenen wirtschaftlichen Freiheiten die sozialen Grundrechte nicht mehr dominieren dürfen. Sozialstaat und Demokratie sind eben nicht zu trennen: Die sozialen Interessen aller sollen in einer Gesellschaft mittels Beteiligung aller geregelt werden und dabei muss auch für alle das Ergebnis stimmen, also mindestens akzeptabel sein. Das dafür erforderliche Maß eventueller Übertragung von Souveränitätsrechten von der nationalen Ebene auf die EU, das für die Schaffung einer solchen sozialen und demokratischen Union nötig wäre, sollte dabei nicht der Ausgangspunkt der Debatte sein. Vielmehr sollte die Form den als notwendig erkannten Inhalten folgen. Notwendig ist dafür allerdings die breite Mobilisierung in den sozialen Kämpfen und konkrete Solidarität zwischen den Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten. So könnte Europa auch wieder ein Projekt der Menschen, also auch ein linkes Projekt sein. Sonst würde es zunehmend ein Europa der Neoliberalen und Konservativen. Linke Tradition und Geschichte kämen dann darin nicht mehr vor. Auch Linke kämen dann kaum noch vor.