60. Jahrestag der Montanunion: Ein Grund zur Besinnung
Kommentar von Gabi Zimmer
Als der französische Außenminister Robert Schuman im Mai 1950 vorschlug, die westdeutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen, war das eine Sensation. Der Eroberungs- und Vernichtungskrieg des deutschen Faschismus war erst sechs Jahre vorher endgültig gestoppt worden – da spricht der Pragmatiker Schuman bereits vom „Grundstein für eine Europäische Föderation“. Frankreich ging es vor allem um eine wirksame Kontrolle der westdeutschen Schwerindustrie. Die Idee der „Kontrolle durch Integration“ ersetzte die unmittelbare Kontrolle der alliierten Siegermächte über die deutsche Industrie. Ein historisches Friedensprojekt, das das friedliche Zusammenleben zwischen den integrierten Staaten Europas seither gesichert hat.
Bereits 1941 hatte der italienische Antifaschist, späterer Abgeordneter des Europäischen Parlaments und EU-Kommissar Altiero Spinelli als Antwort auf die Kriege des 20. Jahrhunderts im Manifest von Ventotene die Gründung eines europäischen Föderalstaats vorgeschlagen.
60 Jahre nach ihrer Gründung ist aus der Montanunion tatsächlich fast eine Föderation geworden. Die Europäische Integration hat der Bundesrepublik schrittweise die volle Souveränität gebracht, aus BRD und DDR wurde Deutschland und die Europäische (Wirtschafts-) Gemeinschaft wurde 1991 in Maastricht zur Europäischen Union. Trotz der politischen Idee einer friedenssichernden europäischen Einigung, trotz Grundrechtecharta, Unionsbürgerschaft und Versuchen einer gemeinsamen Außenvertretung bleibt die EU vor allem ein wirtschaftliches Integrationsprojekt – und zwar ein negatives. Denn die Grundfreiheiten des Binnenmarktes bedeuteten, dass das Kapital beinahe keiner Beschränkung oder demokratischer Regulierung unterstellt sein darf. Im Konflikt mit sozialen Rechten der BürgerInnen der EU (von MigrantInnen ganz zu schweigen), die nach wie vor national und nicht europäisch verankert sind, schlägt der König stets den Bauern. Nicht erst seit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von Amsterdam 1997 treibt Deutschland die anderen Mitgliedsstaaten wirtschaftspolitisch vor sich her. Statt einer Dominanz der sozialen Kohäsion, der (republikanischen) Demokratie und des (äußeren) Friedens, ist die EU heute eine zwischenstaatliche Arena, in der Wettbewerb zum religiösen Dogma geworden ist. Das neoliberale „Jeder gegen Jeden“ ist bereits in den EU-Verträgen angelegt und beinahe jede EU-Richtlinie atmet seinen Geist. Um gegen die USA, China und andere aufstrebenden Wirtschaftsnationen konkurrieren zu können, um „der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt“ zu werden, lassen die EU-Staaten nicht unversucht, die sozialen Errungenschaften der Menschen in der EU als „Kostenfaktoren“ abzubauen. Damit spitzt die EU die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter zu, anstatt ihre Ursachen zu beseitigen. Auch die Militarisierung der EU schreitet voran, wenngleich die militärischen Einzelinteressen der Mitgliedsstaaten noch eine ganze Weile überwiegen werden.
Das Europäische Parlament, die direkte demokratische Vertretung der Menschen in Europa, wird heute von Konservativen und Liberalen dominiert. Es ist in den letzten Jahren in seinen demokratischen Rechten zwar erheblich gestärkt worden, kann sich aber gegenüber dem Rat, den Regierungen der mächtigen Mitgliedsstaaten, vorneweg Deutschland, nur schwer behaupten. Noch hat die Linke Europas die EU nicht als ihr Projekt angenommen, kämpft sie nur halbherzig um einen anderen Entwicklungsweg der EU. Das muss sich ändern. Die Linke kann die EU nicht einfach neu erfinden, aber sie kann und muss sich um demokratische europäische Mehrheiten mühen. Sie muss Partnerin für soziale, ökologische und demokratische Bewegungen, Gewerkschaften, Friedensinitiativen und andere emanzipatorische politische Kräfte sein. Europa muss sich weiter integrieren, wenn die soziale Spaltung aufgehoben, wenn es wirklich demokratisch werden soll. Wohlmöglich steht am Ende des 1951 mit der Montanunion begonnenen Prozesses eine demokratische Union als Bundesstaat. Die Demokratischen Sozialisten und Kommunisten sollten sich für eine breite Debatte um eine linke Vision Europas und für alternative Politikangebote zur europäischen Entwicklung öffnen.