Exportmeister Deutschland muss endlich auch den Mindestlohn meistern

Am 1. Mai 2011 ist es so weit. Verbliebene Einschränkungen in Deutschland und Österreich werden aufgehoben und es gilt auch hier für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus acht EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Im Hinblick auf die Integration dieser Staaten in die Europäische Union ist das ein wichtiger Schritt.

DIE LINKE hat immer gefordert, dass solche Einschränkungen nur Übergangscharakter haben dürfen. Jeder Mensch muss die gleichen Rechte auf Freizügigkeit haben. Offene Grenzen sind zentraler Bestandteil eines sozialen, solidarischen und auf gleichen Rechten beruhenden Europas – ohne Ausgrenzung und Diskriminierung.

Doch wenn Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht durch gesetzliche Mindestlöhne und soziale Mindeststandards am gleichen Ort für gleiche Arbeit für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begleitet wird – wie in Deutschland -, droht ein Lohndumpingwettbewerb, der auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.

Leider rangieren in der EU immer noch soziale Grundrechte nachrangig hinter den Wettbewerbs- und Kapitalfreiheiten. Strategien wie „Europa 2020“ und Konzepte wie „Flexicurity“ nach dem Motto “Hauptsache Arbeit – zu welchen Konditionen auch immer“ sind das Dogma, an dem festgehalten wird. Die Medizin hat vorher schon nicht geholfen. Jetzt wird nur die Dosis erhöht.

Dabei geht es auch anders: Das Europäische Parlament hat in Sachen Mindestlohn bereits am 9. Oktober 2008 ein klares Ziel vorgegeben: Die Entschließung zur Förderung der Integration und die Bekämpfung der Armut – einschließlich der Kinderarmut – fordert vom Europäischen Rat eine Vorgabe für Mindestlöhne auf europäischer Ebene, die mindestens 60 Prozent des nationalen  branchenspezifischen Durchschnittslohns darstellen. Warum kann man nicht in der gesamten Europäischen Union Mindestlöhne einführen? Sie gelten ohnehin bereits in 20 EU-Mitgliedstaaten und laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in 100 Staaten weltweit.

In Großbritannien wurde der Mindestlohn nach hitzigen Debatten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eingeführt und seitdem mehrfach angehoben. Zahlreiche wissenschaftlichen Studien belegen: Der Mindestlohn hat die Verdienste am unteren Ende der Lohnskala ohne messbare Jobverluste erhöht. Keine gesellschaftlich relevante Gruppierung in Großbritannien verlangt heute die Abschaffung des Mindestlohns. In Deutschland fehlt einzig der politische Wille.

Auch eine neue Studie der Universität Berkeley über die amerikanischen Mindestlöhne kommt zu dem Ergebnis, dass es offenbar einen Spielraum für einen Mindestlohn ohne Jobverluste gibt. Dieser Spielraum muss genutzt werden, dafür muss die Linke in Europa kämpfen: Es geht um einen Mindestlohn, der Armut trotz Arbeit unterbindet. Ein Mindestlohn wird die Rutschbahn in die Armut verhindern und Transferleistungen für Erwerbslose wieder für sinnvolle Arbeits- und Weiterbildungsmöglichkeiten freisetzen, statt Dumpinglöhne damit aufzustocken.

In Deutschland ist die Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns überfällig. Exportweltmeister und Lohnzurückhaltung sind nicht nur zwei Seiten einer Medaille, es ist die falsche Politik. Es wird die nackte Konkurrenz über die nicht steigenden Löhne ausgetragen, statt über einen Wettbewerb um gute Produkte und umweltfreundliche Technologien. Deshalb ist die Binnenkaufkraft in Deutschland schwach. Stattdessen wird ein Großteil in europäische Länder exportiert. Deutschland profitiert vom europäischenBinnenmarkt und vom Euro. Andere Länder müssen importieren und Schulden machen. In Anbetracht der Tatsache, dass durch den Wegfall der Wechselkursrisiken in der Eurozone deutsche Unternehmen Jahr für Jahr circa 10 Milliarden Euro sparen, ist die EU-Politik der Regierung Merkel eine Schande. Der Einzug des IWF und seiner radikalen Schocktherapie in Griechenland, Irland und nun auch in Portugal ist ein schwerer Schlag für die europäische Integration.

Die Verteidigung und der Ausbau der sozialen Errungenschaften Europas verlangt  intensivere Bündnisse mit Gewerkschaften, Kirchen, mit Beschäftigten in prekären  Arbeitssituationen, mit Erwerbslosen und anderen. Der gemeinsame Kampf um die Einführung von Mindestlöhnen schafft Voraussetzungen für die Stärkung des sozialen Profils in ganz Europa. Exportmeister Deutschland muss die rote Laterne in Europa abgeben und endlich den Mindestlohn meistern.