Eröffnungsrede zur Dersim-Konferenz 2009
Aufarbeitung des Massakers vor 71 Jahren
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
ich freue mich sehr, Sie heute so zahlreich im Europäischen Parlament in Brüssel zu begrüßen. Wir sind hier zusammengekommen, um über die Geschehnisse von Dersim zu reden. Viele von Ihnen haben eine weite Anreise auf sich gekommen, um heute hier zu sein. Viele konnten an dieser Konferenz nicht teilnehmen, weil der Raum, in der wir heute diskutieren, begrenzt ist. Ich freue mich deshalb besonders, dass der internationalen Fernsehsender Roj-TV es unseren Freunden, die nicht in Brüssel sein können, es ermöglicht, die Debatten hier zu verfolgen. Wir wollen heute über Geschehnisse reden, die mehr als 70 Jahre in der Vergangenheit liegen. Dinge, die uns trotz dessen noch immer bewegen. Dinge, offensichtlich, über die noch nicht genug geredet wurde.
Diese Konferenz heute reiht sich ein in eine lange und vertrauensvolle Zusammenarbeit, die die Linksfraktion im Europäischen Parlament seit langem mit unseren kurdischen und alevitischen Freunden verbindet. Vor genau einem Jahr konnte die, von meiner Genossin Feleknas Uca mitorganisierte Konferenz zum Genozid von Dersim, bereits lebhafte Debatten anstoßen. Ich freue mich deshalb sehr, dass mein Genosse Jürgen Klute sich dieses Jahr bereit erklärt hat, diese Nachfolgekonferenz zu ermöglichen. var t27 = „t“; function imgToggle27(id) { var e=document.getElementById(id); t27=(t27==“t“?“o“:“t“); e.src=“/serveImage.php?id=27&type=“+t27; }
Meine Damen und Herren, es mag Menschen geben, die sagen, dass wir hier über Dinge reden wollen, die bereits zu lange her sind, um für heutige Generationen noch von Belang zu sein. Solchen Aussagen darf man keinen Glauben schenken. Liebe Freundinnen und Freunde, man sagt auch – und vielfach zu Recht – dass es die Sieger sind, die die Geschichte schreiben. Die Deutung über die Vergangenheit, das Sprechen über Siege und Niederlagen, über die Art, wie Siege und Niederlagen zustande gekommen sind, über Widerstand und Verluste sind Machtfragen.
Dies wird uns tagtäglich deutlich gemacht, Wenn wir erleben, dass von Siegern kein Widerspruch geduldet wird, dass die sie die alleinige Deutungshoheit über die Vergangenheit beanspruchen, dass das Reden über das Leid und die Toten auf der Seite der Opfer nicht gestattet wird. Regime aber, die nicht zulassen wollen, dass frei und gleichberechtigt über die Vergangenheit, und die Wunden, die sie hinterlassen hat, geredet wird, Regime, die nur das Gedächtnis der Sieger zulassen, sind gefährlich.
Für die Linke besteht die Lektion des 20. Jahrhunderts auch darin, dass es keine Siege geben darf, die auf Gewalt gebaut sind. Was wir für das 21. Jahrhundert brauchen, ist ein Sieg der Vernunft und des Ausgleichs. Zur Tragik von Massakern wie dem von Dersim gehört es auch, dass die Opfer uns nicht mehr berichten können. Andere müssen daher in ihrem Namen sprechen. Es ist die Verantwortung ihrer Brüder und Schwestern, ihrer Mütter und Väter, ihrer Enkel und Urenkel, zu erinnern und so gegen das Vergessen zu kämpfen.
Meine Damen und Herren, man sagt auch, dass wer die Vergangenheit kontrolliert, die Gegenwart kontrolliert – mehr noch, auch die Zukunft beherrscht. Erinnern braucht aber auch Orte. Orte, an denen frei debattiert werden kann, wie dieser Ort. Es braucht aber auch Orte der Erinnerung – Orte, an denen die Opfer und ihre Angehörigen berichten können, an denen die Vergangenheit noch lebendig ist, Orte, die selbst zu Zeugen der Vergangenheit geworden sind.
Für eine demokratische Aufarbeitung der Vergangenheit ist es daher unabdingbar, dass auch die Orte bewahrt werden, die die Vergangenheit symbolisieren. Alleine deshalb dürfen wir es nicht zulassen, dass Staudämme im Südosten des türkischen Staates historische Orte überfluten, dass das Bemühen um Erinnerung auf solch brutale Art und Weise zunichte gemacht werden soll. Ich möchte deshalb hier auch anmerken, dass es für solche Projekte von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsländern keine Unterstützung geben darf.
Das Thema dieser Konferenz kreist um die Region von Dersim, genauer um das Massaker, das das kemalistische Regime an ihnen beging, und das mehreren zehntausend Menschen das Leben kostete. Die Mehrzahl der dort lebenden Menschen sind Kurden und gehören dem alewitischen Glauben an. Wegen ihrer kurdischen Abstammung und wegen ihres alewitischen Glaubens wurden sie vom Osmanischen Reich und dem Nachfolgestaat, der Republik Türkei, brutal verfolgt.
In den Jahren 1937 und 1938 wollte das kemalistische Regime den Widerstand der Kurdinnen und Kurden in der Region endgültig brechen. Schon drei Jahre zuvor wollte man der Stadt willkürlich einen neuen Namen geben, und so das sprachliche Erbe der Bewohner auslöschen. Auch der Kampf um die kurdische Muttersprache ist heute noch nicht zu Ende, doch es gibt Zeichen, die darauf deuten, dass diese Auseinandersetzung gewonnen werden kann. var t28 = „t“; function imgToggle28(id) { var e=document.getElementById(id); t28=(t28==“t“?“o“:“t“); e.src=“/serveImage.php?id=28&type=“+t28; }
Vor siebzig Jahren reichte es dem kemalistischen Regime nicht, zehntausende dort lebende Menschen zu töten. Eine Entvölkerung der Region war das Ziel. Unzählige Menschen wurden vertrieben und in andere Provinzen verbannt. An einer Anerkennung dieser Greueltaten und der Bitte um Entschuldigung an den Nachkommen der Opfer führt heute kein Weg vorbei.
Zur Zeit des Massakers 1937 bis 38 wurde nicht nur im Nahen Osten gemordet. Auch Europa durchlebte einen Rückfall in barbarische Zeiten: dem Bürgerkrieg in Spanien fielen – mit deutscher Unterstützung – unzählige, auf Seiten von Republikanern, viele von ihnen Sozialisten, kämpfende Menschen zum Opfer. Im faschistischen Hitlerdeutschland wurden die Grundlagen für einen unvorstellbaren Angriffskrieg und Völkermord gelegt, dem Millionen zum Opfer fallen sollten.
Dem türkischen Regime wurde von seinen europäischen Verbündeten freie Hand gelassen. Auch deshalb ist es heute unsere Verantwortung, im Europäischen Parlament über Dersim zu reden, und was es uns zu sagen hat. Zu diesem Zweck haben wir uns hier in Brüssel versammelt, zu diesem Zweck sind eine Reihe wichtiger und Intellektueller angereist. Ihnen möchte ich jetzt das Wort übergeben.
Vielen Dank!