Brüsseler Spitzen

Andreas Wehr

Artikel von Andreas Wehr, erschienen im ND am 19.10.01

Auch wenn gegenwärtig alle über die vom Innenminister Schily geplanten Einschnitte in die Freiheitsrechte unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung reden, die Debatte über das von der Bundesregierung vorzulegende Zuwanderungsgesetz wird bald wieder aufleben. Und hier wird sich der Innenminister nicht nur mit der Kritik von Seiten des Koalitionspartners, von Kirchen und Migrantenorganisationen auseinander setzen müssen, sondern auch mit den Vorschlägen einer Institution, von der die deutschen Hardliner am allerwenigsten Kritik erwartet hätten: der Europäischen Kommission. Sie hat in den letzten beiden Jahren mehrere Richtlinienentwürfe und Mitteilungen zum Komplex Einwanderung als auch zu Fragen des Asylrechts und zur Stellung von Drittstaatsangehörigen in der EU vorgelegt.

So sieht etwa der von der Kommission beschlossene Entwurf für eine Richtlinie zu gemeinsamen Mindeststandards für den Flüchtlingsstatus vor, dass in allen EU-Staaten neben jenen Personen, die unmittelbar! unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, auch Opfer nichtstaatlicher Verfolgung einen entsprechenden Status erhalten können. Dazu gehören etwa Personen, die Zuflucht vor gewaltsamen Fundamentalisten in Algerien suchen oder Opfer von Vergewaltigungen, die sich während des Kriegs auf dem Balkan ereignet haben. Damit folgt Brüssel der Praxis fast aller Mitgliedstaaten und des UN-Füchtlingskommissariats. Nur in Deutschland und Frankreich werden Opfer nichtstaatlicher Verfolgung nicht mit jenen rechtlich gleichgestellt, die laut Genfer Konvention anerkannte Flüchtlinge sind. »Selbst wenn ihr Aufenthalt geduldet wird, haben sie weniger Möglichkeiten zur Eingliederung im Aufnahmeland. Anders als bei klassischen Asylbewerbern im Sinne der Genfer Konvention besteht bei solchen Personen eher die Möglichkeit, dass sie abgeschoben oder gar nicht ins Land gelassen werden«, stellt die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« fest.

Eine wichtige Frage in allen Asylverfahren ist die Defini! tion eines sicheren Drittlandes. In dem Vorschlag der Kommission über »Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft« vom September 2000 wird ein solches sicheres Drittland nur unter folgenden Bedingungen angenommen: »Es beachtet generell die völkerrechtlich verankerten Normen zum Schutz von Flüchtlingen. Es beachtet generell die grundlegend völkerrechtlich verankerten Menschenrechtsnormen, von denen auch im Falle eines Krieges oder eines den Bestand des Staates bedrohenden öffentlichen Notstandes nicht abgewichen werden darf.« Legt man diese Kriterien der Kommission zu Grunde, so kann wohl in Zukunft weder die Türkei noch so mancher südosteuropäische Staat als sicheres Drittland angesehen werden. In Deutschland ist dies hingegen gegenwärtig gängige Praxis.

Vom Europaparlament wurde bereits ein Richtlinienentwurf zur Koordinierung der einschlägigen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Rahmen der Familienzu! sammenführung gebilligt. Danach sollen auch minderjährige Kinder, d.h. die noch nicht das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter erreicht haben und nicht verheiratet sind, nachgezogen werden können. Nach dem Schily-Entwurf soll aber ein Kindernachzug bis zu einem Alter von 18 Jahren nur den »Hochqualifizierten mit einer Niederlassungserlaubnis« ermöglicht werden. Für die einfachen Menschen gilt hingegen, dass sie ihre Kinder nur bis zum 12. Lebensjahr nachholen können. Weder in der Frage des Nachzugsalters für Kinder oder bei der Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund, noch im Asylverfahrensrecht bei der Definition eines sicheren Drittlandes decken sich daher die Positionen der EU-Kommission mit denen des deutschen Innenministers. Zu Recht heißt es denn auch im Beschluss von Bündnis 90/Die Grünen zum Schily-Entwurf: »Mit diesen Positionen isoliert sich die Bundesrepublik in Europa weitgehend.« Schilys Antwort: »! Die Grünen machen den Fehler, Planungen der Europäischen Kommission schon für die Wirklichkeit zu nehmen. Die Entscheidungen fielen jedoch im Ministerrat.« Diese Bewertung ist durchaus realistisch. Nur: Auf diesem Wege kommt man wohl kaum zu einem abgestimmten europäischen Vorgehen in den Fragen des Asyls und der Einwanderung. (ND 19.10.01)