Martina Michels bei Euronest

Martinas Woche 15_2024: Brüssel beerdigt Genfer Konvention und europäische Geschichte

Konstanze Kriese, Martina Michels

Migration und Asyl – EU und Kommunen – EGMR: Klimaschutz ist Menschenrecht – Iran greift Israel an

In der vergangenen Woche hat sich das EU-Parlament, das so oft in den vergangenen fünf Jahren Gesetzgebungen qualifiziert hat, sei es zu digitalen Themen, zur Pandemiebekämpfung, zum Klimaschutz oder beim Lieferkettengesetz, beim Mindestlohn oder der Plattformarbeit, an einer wirklich schwarzen Stunde europäischer Politik beteiligt. Eine knappe Mehrheit stimmte einer Reform der Asylgesetzgebung zu, die Menschen ihres individuellen Schutzrechtes auf Asyl beraubt und damit internationalen Konventionen widerspricht. Die Hoffnung, dass man gegen diese Gesetzgebung erfolgreich klagt, stirbt bekanntlich zuletzt.

Am Dienstag vor dieser unsäglichen Abstimmung überraschte der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) mit einer Entscheidung, indem er die Schweiz verurteilte, durch unzureichende Klimapolitik das Recht auf Schutz vor negativen Umweltveränderungen verletzt zu haben. Der Schweizer Verein der Klimaseniorinnen hatte geklagt und als Antwort erhalten, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Dieses Urteil wird durchaus auch die EU-Mitgliedstaaten „erfassen“, denn es bringt Regierungshandeln unter Druck, das den Klimaschutz nicht ausreichend durchsetzt. Am Ende wird dies auch die Green-Deal-Politik der EU betreffen, die immer wieder durchlöchert wird von Ausnahmen, Fortsetzen fossiler Brückentechnologien, Aufweichen von Grenzwerten oder durch Proteste von Bauern unter Druck gerät, die den Klimawandel nicht allein stemmen können.

Drei Abende diskutierte Konstanze aus unserem Team in NRW mit Stadtratsfraktionen in Essen, Dortmund und Köln über die Handreichung für Kommunen aus Europapolitischer Perspektive. Ergänzt wurden die Debatten von Übersichten und interessanten Auswertungen der regionalen Förderpolitik durch Andrea Höber, der Referatsleiterin Europapolitik beim Regionalverband Ruhr (RVR). Dies war wiederum für uns wie ein Spiegel der Arbeit im Regionalausschuss und auch unter der Fragestellung, wie Kommunen stärker in die Entstehung Europäischer Politik eingebunden werden können.

Das Wochenende war von einer neuen Eskalation im Nah-Ost-Konflikt überschattet. Nach den Angriffen auf die Iranischen Botschaft in Damaskus, die Israel zugeschrieben werden und bei der hohe Generäle Irans getötet wurden, griff der Iran erstmalig Israel mit über 300 Drohnen und Marschflugkörpern direkt an. Der „Iron Dom“ hat gehalten, doch die politische Lage ist zugespitzt wie lange nicht und verlangt internationale Aktivitäten, dieser Eskalation ein Ende zu setzen und Lösungen für ein friedliches Zusammenleben wieder konsequent auf den Tisch zu legen und endlich umzusetzen.

Knappe Mehrheit stimmt im Europaparlament für Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist viel enger mit der Europäischen Geschichte verknüpft als viele vermuten, denn sie diente unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg vor allem dem Schutz geflüchteten Menschen aus Europa und begründete im Rahmen des Völkerrechts einen individuellen Schutzstatus. Erst 1967 wurde der Wirkungsbereich der 1951 verabschiedeten Konvention zeitlich und auch geografisch erweitert. Inzwischen sind 149 Staaten der Genfer Flüchtlingskonvention und seinem Protokoll vom 1967 beigetreten. Im Mittelpunkt stehen Regelungen zum individuellen Schutz von geflüchteten Menschen, die wegen Kriegs, Katastrophen, individuellerer Verfolgung und Bedrohung menschenrechtlicher Ansprüche geflüchtet sind. Damit bezieht sich die Konvention auf Rechte der Menschen, die Asyl in anderen Staaten suchen. Arbeitsmigration, auch wenn sie aus Armutsgründen erfolgt, Familienzusammenführung, Ausbildung in einem anderen Land fallen nicht unter die Konventionsinhalte und sind in den Regionen weltweit sehr unterschiedlich im Zusammenhang mit dem Erwerb von staatsbürgerlichen Rechten geregelt.

Das EU-Parlament hatte schon 2017 einen kompletten Vorschlag für die Reform des „Dublin-Systems“ vorgeschlagen, indem es insbesondere bei der europäischen Verteilung, beim Umgang mit Minderjährigen und in der Gestaltung humaner Antragsverfahren echte Fortschritte gab, zumal sich alle demokratischen Fraktionen, von den Konservativen bis zu den Linken, auf einen gemeinsamen Vorschlag geeinigt hatten. Dieser wurde zwar von Organisationen wie Pro Asyl als bürokratisch und nicht praxistauglich kritisiert, versprach allerdings kleine Fortschritte. Doch dieser Vorschlag wurde dann vom Europäischen Rat regelrecht ausgesessen. Mit dem Amtsantritt von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin wurde endlich Besserung gelobt und es kamen erneut Verhandlungen im Rat auf den Tisch. Doch mit der Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, indem erstmalig die Massenzustromrichtlinie für Ukrainer*innen angewandt wurde, die insbesondere einen schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt beinhaltete, dauerte es dann weitere fünf Jahre, bis sich die EU-Mitgliedstaaten auf die denkbar schlechteste Fassung einer Asylreform einigten. Eine knappe Mehrheit nahm am letzten Mittwoch (10. April 2024) alle zehn vorgelegten Gesetzesvorschläge an. Abschiebeverfahren sollen in haftähnlichen Bedingungen beschleunigt werden, Grenzen stärker gesichert und Länder an der EU-Außengrenze – unter anderem durch Umsiedlung – entlastet werden. Die noch ausstehende Zustimmung des EU-Rats gilt als sicher. In den Kommentarspalten überwiegt europaweit Kritik und dies zurecht. Linke, auch die Grünen in Europa sowie Teile der sozialdemokratischen Abgeordneten haben dieser Reform nicht zugestimmt, denn sie hebt das individuelle Recht auf Asyl aus den Angeln und unterwirft z. B. die Zustimmung zu Asylanträgen quantitativen Kriterien, die aus dem gängigen Umgang mit dem Herkunftsland (z. B. keine hohe Anerkennungsrate) und ähnlichem gewonnen werden. Der individuelle Fall, zum Beispiel eines verfolgten Homosexuellen aus Tunesien, wird dann nicht mehr behandelt, obwohl dort Homosexualität noch immer unter Strafe steht, also ein typischer Verfolgungsgrund ist, der zu einer Anerkennung eines Schutzes durch Asyl führen müsste. Stattdessen überwiegt die Tendenz, immer mehr „sichere Drittstaaten“ zu identifizieren, in die Asylsuchende wieder abgeschoben werden können.

Der Kniefall vor den Rechtspopulisten wird den Druck auf die letzten Reste einer humanen Asylpolitik weiter erhöhen und nichts lösen. Der bisher schon massiv ausgeweitete Rechtsbruch an den EU-Außengrenzen, die Push Backs von Booten, die Verfolgung von NGOs und Seenotretter*innen, werden weiter sanktioniert. Von „fiktiver Nichteinreise“ bis sichere Drittstaaten, von unbegleiteten Minderjährige als Sicherheitsrisiko bis zur Inhaftierung ist alles dabei. Dies wird weder Italien oder Griechenland entlasten, noch werden Lösungen angeboten, wie wir in Zukunft mit Asylrechten umgehen, mit Migration durch ökologische, wirtschaftliche und kriegerische Fluchtursachen, aber auch mit Einwanderung in einen schrumpfenden Kontinent. 53647015095_c440c42517_o-1280x742

Es ist wichtig festzuhalten: Keine Kommune wird durch dieses Paket sinnvoll entlastet oder erhält mehr Möglichkeiten, den Investitionsstau, den es auch ohne Integrationsherausforderungen gibt, endlich in Angriff zu nehmen, ob bei der bezahlbaren Energiewende, beim sauberen Wasser, bei Kitaplätzen und bezahlbarem Wohnraum oder dem ÖPNV. Unsere Fraktion hat gemeinsam mit NGOs am Tage der Abstimmung vorm Parlament gegen dieses Asylpaket demonstriert, um auf diese verfehlte Politik aufmerksam zu machen und Schritte zu vereinbaren, wie wir u. a. juristisch gegen die „fiktive Nichteinreise“ (z. B. ein als exterritorial erklärter Raum in Flughafengebäuden) vorgehen können. Denn in Deutschland haben Gerichte derartige Regelungen zur Verhinderung von Asylanträgen schon gekippt. In der Pressemeldung von Cornelia Ernst wird dieses historische Versagen nochmals zusammengefasst.

EGMR: Klimaschutz ist Menschenrecht

Viele Medien berichteten vor fünf Tagen von dem sensationellen Urteil des Europäischen Menschengerichtshofes zum Recht auf Klimaschutz. Auch wenn hier konkret die Schweiz verklagt wurde, hat das Urteil Folgen auch für die EU-Mitgliedstaaten. Finnland hat schon reagiert und sieht eine nötige Kurswende in der Regierungspolitik angezeigt. „Das jüngste EGMR-Urteil könnte zu einem neuen Klimagerichtsverfahren in Finnland führen, bei dem die Klimapolitik der Regierung auf den Prüfstand gestellt wird. Unternehmen und Gemeinden wären davon nicht betroffen, da nur der Staat an das Klimagesetz gebunden ist. Sollte die Entscheidung des Gerichts die Regierung jedoch zu weiteren Maßnahmen verpflichten, hätte dies auch Auswirkungen auf das unternehmerische Umfeld. […] Experten sind überzeugt, dass es weitere Prozesse geben wird, sowohl in Finnland als auch in Europa.“, schrieb die Tageszeitung Kauppalehti (zitiert nach Eurotopics). Auch die Tageszeitung Neues Deutschland sieht im wegweisenden Urteil einen Präzedenzfall und verweist darauf, dass dieses Urteil auch im Europarat ein Novum war: „Erstmals in seiner 65-jährigen Geschichte hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Urteile zum Thema Klimawandel gefällt. Verstoßen Regierungen gegen die Menschenrechte, wenn sie nicht genug gegen die Erderwärmung tun? So lautete im Kern die Frage. Die Erwartungen waren hoch, da der Gerichtshof in Straßburg zwei der drei Klagen, die zur Verhandlung standen, als vorrangig eingestuft hatte – ein Zeichen für den hohen Stellenwert, den die Richter der Entscheidung einräumten.“

Israel unter Druck – Iran eskaliert den Nah-Ost-Konflikt

Unter den Überschrift „Flächenbrand verhindern – Frieden schaffen“ kommentierte Martina Michels heute die Eskalation im Nah-Ost-Konflikt durch den Iran in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Sie erläutert an die Adresse der Falken in Israel und der ständig aktiven Proxies Irans in der Region:

„Es kommt jetzt darauf an, dass alle Beteiligten besonnen handeln. Ein ‚Recht auf Vergeltung‘, wie es Israels Vertreter bei den Vereinten Nationen vorbrachte, gibt es nicht im internationalen Recht. Sehr wohl gibt es ein Recht auf territoriale Unversehrtheit. Deshalb finde ich es richtig, dass mehrere Staaten Israel bei der Abwehr der iranischen Raketen unterstützten. Die EU muss für die Sicherheit Israels einstehen und eine weitere Eskalation ist in niemandes Interesse. Deeskalation und Sicherheit in der Region muss unser erstes Ziel sein.“

Einerseits kann man guter Hoffnung sein, dass Biden gegenüber Netanyahu schon abgewinkt hat, eine Vergeltung zu unterstützen, andererseits muss diese gefährliche Aktion des Iran, bei der die Luftabwehr Israels Schlimmeres vereiteln konnte, weltweit Konsequenzen haben, die Konfliktregion endlich zu befrieden, statt wie in der Vergangenheit das konventionelle Waffenarsenal der neuen kalten Krieger auf dem Rücken von Israelis und Palästinenser*innen zu testen. Ein Waffenstillstand mit umfangreichen Friedensverhandlungen muss jedoch die Einhegung des Terrors der Hamas einschließen, was nur unter internationaler Kontrolle und mit Unterstützung der EU Erfolg haben wird. Diese Entwicklung würde auch all den unermüdlichen Menschen in Israel helfen, die nicht nur die Freigabe der noch lebenden Geiseln der Hamas nach dem Überfall am 7. Oktober 2023 fordern, sondern sich auch gegen das Schleifen der Demokratie innerhalb Israels wenden.

Links zu den Pressemitteilungen von Martina Michels und Cornelia Ernst