Martinas Woche 36/2021: Globale Lage zwischen Brüssel, Berlin und Oostende
Fraktion in Brüssel – Lage in Afghanistan – 11/9 – ManiFiesta der PTB
Morgen startet die Geberkonferenz der UN, denn die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan lebt in Armut. Doch dies ist nur der caritative Ausdruck eines explosiven politischen Konflikts, der mit dem chaotischen Abzug der NATO aus Afghanistan in eine neue Runde geht. Und natürlich stand die Lage in Afghanistan sowohl in der Fraktionssitzung der vergangenen Woche als auch bei anderen Treffen im Fokus. In der kommenden Woche wird dann die Situation in Afghanistan, die Herausforderungen an eine friedliche und diplomatisch fähige EU neben der alljährlichen Rede der Kommissionspräsidentin zur Lage der EU auch im Plenum in Strasbourg auf dem Programm stehen.
Das Wochenende stand in Deutschland natürlich im Zeichen der Bundestagswahlkämpfe. In Berlin wurde für den Mietendeckel sogar getanzt und entspannt. Musikalisch und debattierfreudig ging es in Oostende zu, wo die Parti du Travail de Belgique, die PTB, zur ManiFiesta lud, bei der auch unsere Fraktion vertreten war.
Lage in Afghanistan – die Politik und die Zivilgesellschaft
„Entscheidend ist jetzt der sofortige Schutz gefährdeter Afghaninnen und Afghanen. Das bedeutet: Soweit möglich weiter evakuieren, unkomplizierte Erteilung humanitärer Visa für Afghanen und Afghaninnen in Afghanistan und den Nachbarländern. Alle Mitgliedstaaten müssen sofort ausreichend Aufnahmeplätze zusagen und Familienzusammenführungen mit Verwandten in Europa erleichtern. Außerdem müssen alle in der EU gestellten und abgelehnten Asylanträge von Afghanen und Afghaninnen neu überprüft und alle Abschiebungen unverzüglich gestoppt werden.“, schreibt Cornelia Ernst für unseren Plenarfokus für die kommende Woche und Özlem Demirel legt der EU nahe, endlich ihre diplomatisch-politische Mission zu stärken, statt die Kritik an sinnlosen militärischen Interventionen nicht einmal angesichts des folgenschweren planlosen Abzugs des Westens aus Afghanistan ernst zu nehmen. In den Fraktionsdebatten kam klar zur Sprache, dass der Konflikt nicht ohne das globale Agieren vieler Mächte zu zivilisieren ist. Dabei geht es nicht nur um den Iran, Russland und China, die auf ihre Weise auf die neue Seidenstraße schauen. Wir müssen auch festhalten, dass neben wenigen Politikerinnen und Politikern einmal mehr die Zivilgesellschaft offenbar schier unlösbare Aufgaben übernommen hat bei der Existenzsicherung Vieler in Afghanistan, wie am 10. September die Kultursendung Aspekte eindrucksvoll im ZDF zusammentrug. Viele kümmern sich angesichts der großen Enttäuschung über die deutsche und europäische Außenpolitik weiter um die Befreiung von Ortskräften, um Frauen, die derzeit zuerst spüren, wie das angeblich moderater agierende Taliban-Regime sie erneut aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdrängt. Aktiv beteiligten sich Künstlerinnen, die zuvor in Koproduktionen auch in Afghanistan gearbeitet hatten. Noch immer kann man bei der Luftbrücke Kabul spenden.
In der Internationalen Kommission der LINKEN berichtete Martina vom Stand der Debatten in der Fraktion und verstärkte auch den Wunsch, dass die Kommunikation um die Abstimmung der LINKEN im Bundestag gerade bei solch komplexen Themen funktionieren muss.
Nine eleven – zwei Kalenderblätter
Mit der Lage in Afghanistan werden natürlich bei allen von uns auch die Bilder von den einstürzenden Türmen des World Trade Centers am 11. September 2001 wach. Während man wenige Minuten beinahe dachte, man verfolge ein missglücktes Computerspiel, hämmerte sich das Grauen dieser terroristischen, monströsen Tat ins Bewusstsein. Es ist schon viel über die Reaktionen, den sinnlosen Krieg in Afghanistan geschrieben worden, auch, dass bin Laden und Co. gegen die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan von den US-Militärs gefüttert und ausgebildet wurden. Und wir wissen auch erneut, was wir von den Argumentationen des Regime Change halten können, wenn es es darauf ankommt. Dann sind alle Frauen, die mit Hoffnung auf Demokratie und Selbstbestimmung schon ansatzweise aufwuchsen, alle Journalist*innen, die über eine komplexe Lage jahrelang differenziert berichteten, den Verlierern der eigenen falschen Politik zur Konfliktlösung völlig egal. Dies alles verdrängt jedoch nicht dieses erschütternde Ereignis, bei dem über 3.000 Menschen getötet und sehr viele Menschen verletzt wurden, das als Antwort möglicherweise nichts als Versöhnung statt Vergeltung verlangt, wie immer dies politisch ausgestaltet wird. Anderseits müssen sich derartige Einschnitte immer auch der eigenen Aufarbeitung stellen. Erstaunlich daher, dass im Auftrag von Biden nun, wie es Hinterbliebene gefordert hatten, das FBI veröffentlicht, dass offenbar hohe Saudische Regierungsbeamte in die Planung der Anschläge verwickelt waren.
In der Geschichte der gewaltsamen Vernichtung echter demokratischer Aufbrüche bleibt auch der 11. September 1973 unvergessen. Pinochet putschte sich in Chile an die Macht und es traf zuerst den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und viele Menschen, die sein Projekt des „Sozialismus in Freiheit“ unterstützten. „Eines der interessantesten Projekte Allendes war die Landreform, die Integration der Indigenen vom Volk der Mapuche, die Verteilung der Böden, die Gewerkschaftsrechte. Wir schliefen fast nicht, wir lebten dafür. Das Land musste auf eine andere Weise organisiert werden.“ zitieren Sophia Boddenberg und Anne Herrberg in einem Beitrag im Deutschlandfunk Kultur und weisen zugleich auf die enormen Widerstände, die diese Reformen hervorriefen, und die saßen nicht nur im eigenen Land, sondern mitten im Kalten Krieg auch in Washington. Entscheidend an dem Beitrag ist jedoch der erschütternde Verweis, wie die Militärjunta Pinochets gewütet hat und wie lange sie nachwirkt. „17 Jahre hält Pinochet die Diktatur aufrecht, doch auch nach der Rückkehr zur Demokratie wiegt sein Erbe schwer. Die Diktaturverfassung ist, wenn auch mit Reformen, bis heute in Kraft. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen kommt nur schleppend voran, sagt Beatriz Bataszew.“, wird erinnert. Noch heute wird in Chile wegen der schleppenden Aufarbeitung demonstriert.
Auf nach Oostende zur ManiFiesta der Belgischen Partei der Arbeit, der PTB!
An diesem Wochenende pilgerten viele Belgierinnen und Belgier in ihr wohl bekanntestes Küstenstädtchen Oostende, weil sich dort viele gute Musikerinnen und Musiker trafen, weil Kinder klettern und am Meer sein konnten und es gab erstaunlich viele und gut besuchte Workshops, Debattenrunden, Streitgespräche, in denen es um Mietenpolitik, um Strategien linker Parteien, um NGOs ging, die auf die unterschiedlichste Art und Weise etwas für eine solidarische Gesellschaft tun und zwar nicht auf dem Papier, sondern ganz praktisch: in Agrargenossenschaften, in Migrationsprojekten, in ökologischen Projekten, in eigenen Medien. Vielleicht liegt es daran, dass Belgien nicht so groß ist – auf jeden Fall wurde in vielen Debatten erfrischend klar und deutlich, dass ohne eine bessere europäische Politik nichts läuft, weder der Kampf gegen Faschisten, noch für Reproduktionsrechte von Frauen, weder gegen den Ausverkauf öffentlicher Einrichtungen für Gesundheit, Bildung, Kultur, noch für einen schnellen und fairen Umbau einer Gesellschaft, die die Klimakrise stoppen kann. Unser „internationales“ Zelt war mitten in die Laufwege zu den Konzerten und Debattenzelten platziert und das hatte den interessanten Effekt, viele neugierige Belgierinnen und Belgier kennenzulernen, die sehr wohl auf die Bundestagswahlen in Deutschland am 26. September 2021 schauen und sich wünschten, dass dieses große Land zu einer solidarischen Europapolitik findet, statt seine Exportstrategie ohne Rücksicht auf die Binnenmarktbalancen – vor allem nach der Corona-Krise – fortzusetzen. Sie erwarten gerade, dass große Länder vorangehen, soziale Risse wieder zu schließen, weil nicht nur Superreiche, sondern auch Rechtsaußen davon sichtlich profitiert, indem sie einfache und nationalistische Lösungen vorschlagen, wo komplexe europäische und global gerechte Politik vonnöten wäre.