Die kurdische Bevölkerung braucht unsere Solidarität, jeden Tag
Redebeitrag von Martina Michels auf der Konferenz zur Lage in Afrin in Brüssel
Brussels, 28/06/2018 – Please find English version below
Sehr geehrte Damen und Herren,
am Montag habe ich mit kurdischen Genossinnen und türkischen Wissenschaftlern die Wahlergebnisse in der Türkei in einer öffentlichen Veranstaltung diskutiert. Diese ersten Kommentare haben eines sehr deutlich gemacht: Über die Türkei wird medial und auch manchmal im Parlament gesprochen, als ob die EU Noten verteilen könne, aber eigentlich daran unbeteiligt sei, was in ihrer Nachbarschaft passiert.
Meine erste Debatte zu den Wahlergebnissen hat gezeigt, es gibt kein „ihr“ und „wir“, kein „dort“ und „hier“. Der Versuch, demokratische Strukturen zu zerstören, Selbstbestimmung rückgängig zu machen, ist derzeit global. Die friedliche Lösung der kurdischen Frage im ‚Mittleren Osten‘ bleibt daher eine Schlüsselfrage einer alternativen Politik, vor Ort und in Europa.
Lassen Sie mich zeigen, wie wir in allen Ländern, aus denen wir kommen, schmerzhaft und hilflos die Zerstörung Afrins mitansehen mussten.
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags wurde mit einer völkerrechtlichen Einordnung des türkischen Angriffs auf Afrin beauftragt. Der Auftraggeber war ein Angeordneter der Linksfraktion und oft sind die Ergebnisse solcher Ministudien nicht öffentlich, doch der wissenschaftliche Dienst hat die Meinung dieser hoch qualifizierten und unabhängigen Wissenschaftler*innen selbst auf die Webseite des Bundestags gestellt. Der wissenschaftliche Dienst hält klar und deutlich fest: Der türkische Einsatz in Afrin ist mit dem Völkerrecht nicht vereinbar.
Der Grund ist ganz einfach: Es fehlen Beweise für einen vorangegangenen Angriff auf die Türkei.
Die Türkei berief sich in ihrer Operation Olivenzweig auf das Recht auf Selbstverteidigung. Die UN-Charta räumt dieses Recht „im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ ein.
Doch der wissenschaftliche Dienst schrieb: „Worin genau der bewaffnete Angriff bestehen soll, der ein Selbstverteidigungsrecht der Türkei ausgelöst hat, lässt sich nach Sichtung der Faktenlage nicht eindeutig klären.“
Auch wenn die Türkei in einer Erklärung vor dem UN-Sicherheitsrat behauptet hat, Raketenangriffe aus der Region Afrin auf die türkischen Provinzen Hatay und Kilis hätten zugenommen, haben weder internationale und nicht einmal türkische Medien vor Beginn des Angriffs über so etwas berichtet.
Im Gegenteil, alle wissen und wussten es: Die Region Afrin war Rückzugsort vieler Binnenflüchtlinge in Syrien, kontrolliert von der YPG/YPJ. Es waren jene Einheiten, die im Kampf gegen den IS – an der Seite der NATO-Partner der Türkei – mit ihren entscheidenden Einsätzen zum Erfolg führten, und außerdem Jesid*innen aufnahmen.
Wie wir bereits heute gehört haben, wissen wir, dass Erdoğan in einer weitgehend befriedeten Region Syriens, die von kurdischer Selbstverwaltung geprägt war, ein neues Kapitel des Krieges in Syrien eröffnete. Der Angriff auf Afrin war kein neuer Kampf gegen den internationalen Terrorismus des IS, es war ein alter Kampf gegen Erdoğans privaten Feind, die kurdische Bevölkerung, die politische Opposition, Freunde einer friedlichen Lösung.
Was ein wissenschaftlicher Dienst eines Parlaments in einem größeren EU-Mitgliedstaat zu diesem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung zu sagen hat, ist das eine.
Was europäische Regierungsvertreter sagen, ist offenbar etwas anderes. Sie sagen eigentlich gar nichts. Sie schweigen. Sie schauen zu und warten.
Und als Deutsche bin ich besonders entsetzt, wenn Leopard II-Panzer, made in Germany, verkauft an den NATO-Partner Türkei, eingesetzt werden, um Kurdinnen und Kurden zu töten. Ein Stopp von Waffenverkäufen – zumindest schon einmal – in Krisenländer, und dazu gehört die Türkei spätestens wieder seit dem Herbst 2015, ist das Mindeste wozu sich auch NATO-Partner verständigen können. Das gibt selbst die NATO-Charta her.
Mein zweites Beispiel, wie wir als Europäer von überall im Syrien- und Kurdenkonflikt betroffen sind:
In einer kleinen Anfrage (Drucksache 19/2093) an die Deutsche Bundesregierung fragte schon am 11. Mai 2018 meine langjährige Berliner Mitstreiterin Evrim Sommer, nach Erkenntnissen zu Plünderungen und Zerstörungen von Wohnunterkünften und Gewerbe in Afrin durch Streitkräfte der FSA und der türkischen Truppen. Sie fragte auch nach der Funktionsfähigkeit der zivilen Verwaltungen oder deren begonnenen Umbau nach den Türkischen Angriffen.
Sie ahnen nicht, was die Bundesregierung der Kurdin und linken Politikerin geantwortet hat:
“Die Beantwortung der Fragen 12, 14 und 22 kann aus Gründen des Staatswohls nicht offen erfolgen. Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen der Nachrichtendienste des Bundes sind im Hinblick auf die künftige Erfüllung des gesetzlichen Auftrags besonders schutzwürdig. Ebenso schutzwürdig sind Einzelheiten zu der nachrichtendienstlichen Erkenntnislage…“ – Zitat Ende –
Und so folgte eine interne Beantwortung der Fragen nur für den Dienstgebrauch.
Ich muss mich schon sehr wundern, dass Erkenntnisse über die Zerstörung ziviler Einrichtungen, die ganz klar nicht einmal vom humanitären Kriegsrecht gedeckt sind, nicht im öffentlichen Interesse sind und irgendwelcher Geheimhaltung unterliegen. Ich finde das eigentlich ungeheuerlich.
– folgender Text aus dem Redemanuskript –
Und möchte noch auf einen dritten Fakt aufmerksam machen, der zeigt, dass Erdoğans despotisches Wirken im Inland und in der Region die EU und die europäischen Gesellschaften viel mehr angeht, als wir bereit sind zuzugeben.
2017 erhielt der in Deutschland eingetragene Verein Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion – kurz DITIB – noch immer 297.500 Euro vom deutschen Staat für seine Vereinsarbeit (Drucksache 19/1521). Diese Summe war im Vergleich zum Vorjahr schon um 80 % gekürzt. Dieser Verein, so berichteten große Medien tat sich durch Verherrlichung des Krieges in Afrin hervor, sogar bei Kindern. 2017 wurde 350 Visa an Imame erteilt, die direkt Diyanet-Behörde unterstehen. Sie arbeiten im Dienste desselben Vereins, der sich massiv gegen moderne islamische Studien an Universitäten und Hochschulen ausspricht.
Mich macht das alles manchmal sprachlos, wenn ich andererseits erlebe, dass Kurdinnen und Kurden auch in Deutschland bedroht werden, dass sich Erdoğan aufregt, wenn seine Minister keinen Wahlkampf in anderen Ländern machen dürfen. Das Demonstrationen gegen den Krieg in Afrin in Deutschland nur mit harten Auflagen genehmigt werden.
– weiter im gesprochenen Wort –
Wir müssen täglich mehr Öffentlichkeit für die Kriegsverbrechen in Afrin, genau wie in Ost-Ghouta, und anderen vergessenen Orten, herstellen.
Wir müssen zeigen, dass die EU-Mitgliedstaaten sich beim Deal zur Abwehr von Geflüchteten mitschuldig an Erdoğans Politik machen.
Doch wir müssen darüber hinaus auch zeigen, wie tief die antidemokratischen Poren – und da meine ich nicht nur die Importe aus der Türkei – sondern unsere eigenen Rechtpopulisten bis hin zu Neofaschisten mitten in unseren europäischen Gesellschaften sitzen.
Diese Aufklärung müssen wir gemeinsam leisten, um die Zukunft zurückzugewinnen.
Diese Aufklärung müssen wir leisten, um sachlich die Wahlergebnisse in der Türkei als Fanal eines völlig zerrissenen Landes sehen zu können. Es ist kein erneuter Sieg Erdoğans.
Wir müssen innerhalb der EU unsere Hausaufgaben machen, unsere Regierungen in die Verantwortung nehmen und zeigen, dass die Bedrohungen der Demokratie und Selbstbestimmung keine Probleme sind, die allein Afrin, die allein die Kurdinnen und Kurden betreffen, sondern uns alle. Die kurdische Bevölkerung brauchen jeden Tag unsere Solidarität.
Wir sollten in der gegenwärtigen Situation mit einer europäischen Kampagne für die Freiheit aller politischen Gefangenen beginnen, zunächst für Selahattin Demirtaş und Figen Figen Yüksekdağ. Sie stehen für die Tatsache, dass die friedliche Lösung der kurdischen Frage uns alle angeht, egal ob wir Kurden, Türken, Armenier, Deutsche, Europäer oder von anderswo sind.
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Ladies and Gentlemen,
On Monday, I discussed the Turkish election results in a public event with Kurdish comrades and Turkish scientists. These first comments focused clearly on following issues:
If we speak on the situation in Turkey – via media and sometimes in the European Parliament, finally the EU is distributing censorship on Turkish developments as if we are not involved in what happens in our neighborhood.
My first discussion on the election results has shown, there is no „you“ and „we“, no „there“ and „here“. The twist to destroy democratic structures, undo self-determination is currently global.
Therefore, the peaceful solution of the Kurdish question in the Middle East remains a key issue for an alternative policy, locally and in Europe.
Let me show you, how we in our home countries had to witness the horrible destruction of Afrin.
The scientific service of the German Bundestag was commissioned to give an international legal evaluation of the Turkish attack in Afrin. The request came from a member of the Left Group and often the results of such mini-studies are not foreseen for the public. But the scientific service has put the opinion of this high qualified and independent scientists on the web-pages of the German Bundestag.
The scientific service states clearly like other international lawyers: Turkish intervention in Afrin is incompatible with international law.
The reason is quite simple: There was no evidence of a previous attack on Turkey.
Turkey relied on the right to self-defense for its Operation “Olive branch”. The UN Charter grants this right „in the case of an armed attack against a member of the United Nations“.
However, the scientific service wrote:
„The exact nature of the armed attack that triggered Turkey’s right of self-defense cannot be clearly clarified after examining the facts“.
Although Turkey has stated in a statement to the UN Security Council that rocket attacks from the region of Afrin on the Turkish provinces of Hatay and Kilis have increased, neither international nor even Turkish media reported anything like this before the attack started.
On the contrary, everyone knew that the region of Afrin – controlled by the YPG / YPJ – was the sanctuary of many internally refugees in Syria.
Those military Kurdish units were responsible for the successful fight against ISIS – alongside NATO partners of Turkey, and the region of Afrin was a refuge for Yazidis, too, coming from Iraq and Syria.
As we have already heard today, we know that in a largely pacified region of Syria, which was shaped by Kurdish self-government, Erdogan opened a new chapter of the war in Syria. That was not a new fight against international terrorism as the ISIS, it was an old fight against Erdogan’s private enemy, the Kurds, the political opposition, against friends of a peaceful solution.
Dear friends, dear guest, dear colleagues,
What a scientific service of a parliament in a larger EU member state has to say about this international war against Kurds is one thing.
What European officials say is obviously different. They do not really say anything. They are silent. They are watching and waiting.
And as a German, I am particularly appalled when Leopard II tanks, made in Germany, sold to NATO partner Turkey, when this tanks are used to kill Kurds. A stop of arms sales to instable regions and crisis countries – and this includes Turkey since fall of 2015 – is a political minimum for which NATO partners should communicate. That is even laid down in the NATO Charter.
My second example how we are involved as Europeans from everywhere in the Syrian and the Kurdish conflict:
In a small request to the German Federal Government, asked on 11 May 2018, my long-time Berliner colleague Evrim Sommer made a request focusing on discovering the looting and destruction of housing and trade units in Afrin by forces of the Free Syrian Army and the Turkish troops. She asked about the functioning of civilian administrations or their rebuilding after the Turkish attacks, too.
You have no idea what the German federal government has replied to the Kurdish and leftist politician:
„Questions 12, 14 and 22 cannot be publicly answered for reasons of state welfare. Working methods and procedures of the Federal Intelligence Service are particularly worthy of protection in view of the future fulfillment of the legal mandate. Equally worthy of protection are details of the intelligence findings … “ – End of quote –
It was an announced that an internal answer is for internal use only.
I have to be very surprised that findings of the destruction of civilian facilities, which are clearly not even covered by humanitarian law in conflicts and wars, that this fact are not in the public interest and are subject to some secrecy.
I think that’s really outrageous.
And I would like to draw your attention to a third – and my last – fact that shows that Erdogan’s despotic actions at home and in the region concerns the EU and European societies much more than we are ready to admit.
In 2017, the German-Turkish Association Islamic Union of the Institute for Religion – DITIB – for short, still received 297.500 euros (two-hundred-ninety-seven-thousand) from the German state for its association work.
This sum had already been cut by 80% compared to the previous year. This association, the nationwide media reported on this, was often glorifying the war in Afrin, even among children. In 2017, 350 visas were issued to imams directly under the Turkish Diyanet’s authority. They work in the service of the same association, which strongly opposes modern Islamic studies at universities and colleges.
Sometimes these developments make me speechless, when on the other hand I experienced that Kurds are also threatened in Germany, that Erdogan gets upset if his ministers are not allowed to make an election campaign in other countries. Otherwise, demonstrations against the war in Afrin in Germany are to be approved only under hard conditions.
Every day, we need to increase publicity for the war crimes in Afrin, as well as in East Ghouta and in other forgotten places.
We have to show that EU council and its Member States are complicit in the anti refugee deal with Erdogan.
However, we also need to show how deep the anti-democratic spike already sits in European societies, and I mean in not only Turkey, but also our own right-wing populists and neo-fascists, right in the middle of Europe.
We need to do this enlightenment together in order to regain the future.
We need to provide this information in order to be able to see the election results in Turkey objectively as a torch of a completely torn country. It is not another victory for Erdogan.
We must do our homework within the EU, hold our governments accountable, and show that the threats to democracy and self-determination are not problems that affect only Afrin, who alone are the Kurds, but all of us. Kurds need our solidarity, every day.
We should start in the current situation with a European campaign for freedom of all political prisoners, at first for Selahattin Demirtaş and Figen Figen Yüksekdağ. They stand for the fact that the peaceful solution of the Kurdish question concerns all of us, no matter if we are Kurds, Turks, Armenians, Germans, Europeans or from elsewhere.