Welche Bildung brauchen wir für Europas Zukunft?
Rede von Martina Michels und Interview mit Birke Bull vom 7. September 2017
Die Mitglieder des Kulturausschusses unserer linken Fraktion im Parlament organsierten vergangenen Woche die Konferenz „Quality education for all“. Im Mittelpunkt standen Bildungskonzepte, insbesondere auch für Migratinnen und Migranten, für sozial benachteiligte Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Deutlich wurde, dass die EU neben den Mitgliedsstaaten für eine Bildung, die solidarische Freiräume sichert, Verantwortung übernehmen muss. Aus Deutschland war Birke Bull im zweiten Panel der Konferenz vertreten, die insbesondere zu den praktischen Widerständen bei der Umsetzung inklusiver Bildungskonzepte in Deutschland sprach. Wir dokumentieren hier die Schlußworte der Konferenz von Martina Michels und zugleich ein kurzes Konferenzresumee, festgehalten in einem Video am Ende der Konferenz.
Verehrte Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen, Genossen und Freunde,
zuerst danke ich an dieser Stelle meinen Kollegen im CULT-Ausschuss, insbesondere unserem Koordinator Curzio Maltese, Liadh Ni Rada, Nikos Chountis. Ich danke unseren Referentinnen und Referenten für die wunderbaren Inputs, uns allen für eine lebendige Debatte und ich danke unseren Dolmetscherinnen und Dolmetschern, die unsere Kommunikation über Sprachbarrieren hinweg ermöglicht haben.
Es ist gerade einmal 100 Jahre her, als Wilhelm Liebknecht formulierte: Wissen ist Macht. Und ich erinnere daran, dass es gerade in den ersten Stunden sozialer Bewegungen und linker Parteien um eine Politik ging, die sich gegen ein sozial ungerechtes Bildungswesen auflehnte. Und es gab viele praktische Veränderungen, von Arbeiterbibliotheken bis zu offenen und integrative Bildungs- und Kulturvereinen, Reformpädagogik von Montessori bis Peters.
Heute erleben wir die verheerenden Folgen von Privatisierungstendenzen in den erkämpften Bildungsinstitutionen. Dabei ist die globalisierte Wissensgesellschaft alles andere als eine Fiktion. Die wirtschaftlichen, kommunikativen, sozialen und kulturellen Gräben zwischen führenden Industrieländern und dem globalen Süden, aber auch innerhalb unserer Gesellschaften vertiefen sich.
Wir haben es heute durchaus mit einer Art kommunikativer Klassenspaltung zu tun, wie Lothar Bisky, unser ehemaliger Fraktionsvorsitzender der GUENGL, es einmal formulierte.
Wir sind noch immer weit entfernt von Bildungsgerechtigkeit, vom Zugang aller zu Kulturaustausch und Wissensspeichern. In Zeiten eines Urheberrechts, welches die Möglichkeiten der digitalen Welt eher ausklammert als wirklich eröffnet, wird der Wissensaustausch nicht einfacher, obwohl dies problemlos möglich wäre. Wissen und Kultur sind immerhin die Ressourcen, die durch teilen nicht weniger werden, sondern Gesellschaft und jeden einzelnen bereichern.
Europapolitik kann sich hier gar nicht raushalten, nur weil die Bildungspolitik strukturell und vor allem auch finanziell in den Mitgliedstaaten verantwortet wird. Immerhin entscheiden wir hier im Parlament auch über die Möglichkeiten der digitalen Ausleihe in Bibliotheken oder über Ausnahmen vom Urheberrecht für Lehrerinnen und Lehrer, damit sie mit ihrem Unterrichtsmaterial nicht länger in rechtlichen Grauzonen agieren.
Doch wir sind auch konkret und direkt auf europäischer Ebene bildungspolitisch gefordert. In der kommenden Woche wird zum Beispiel ein Initiativbericht im Parlament verabschiedet. Er trägt den langen Titel: Bericht über akademische Weiterbildung und Fernstudium als Teil der europäischen Strategie für lebenslanges Lernen.
Unsere Fraktion hat den Bildungsbegriff in dieser Positionsbestimmung erheblich erweitert. Sowohl der konservative Berichterstatter, als auch die Mehrheit des Kulturausschusses hatte unsere Positionen, die uns hier alle einen, wirklich aufgegriffen. Jetzt ist ein Bericht entstanden, der die Möglichkeit eines kritischen Blickes sowohl auf das Konzept des lebenslangen Lernens zulässt als auch Bildung als individuelles Recht festschreibt. Damit ist ein reduzierter Begriff von Bildung, der nur auf die Anpassung an den Arbeitsmarkt orientiert, zumindest in dieser Positionsbestimmung überwunden worden. Wir hoffen, dass dieser Ansatz die weiteren Debatten zu den konkreten Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten überlebt. Wir wissen aber zugleich, dass hier die dicken Bretter immer weiter gebohrt werden müssen.
Schon allein deshalb war das Treffen am heutigen Tage ein wichtiger Baustein, einen Europäischen Austausch über Bildungspolitik ernsthaft und unmittelbar in Gang zu setzen und voneinander zu lernen. Unsere Debatten am heutigen Tag haben es doch deutlich gezeigt: Bildungspolitik ist Gesellschaftspolitik!
Egal, wo wir unsere Erfahrungen sammeln, wir haben allerhand Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Uns geht es
- um die Überwindung gegliederter oder separierender Schulsysteme, die Menschen mit Beeinträchtigungen oder mit Migrationserfahrungen ausschließen. Wir wollen eine mehrdimensionale Integration. Und warum wollen wir das? Individuelle Förderung, soziales Lernen, kultureller Austausch machen gemeinsam die Qualität einer demokratischen und nachhaltigen Bildung aus.
- Wir setzen auf die Stärkung der frühkindlichen Förderung und einen selbstverständlichen Zugang zu Bildung für alle Kinder. Und wir haben hier viel Interessantes gehört, woran man sich orientieren kann und wir warden diesen Schwerpunkt sicherlich in den kommenden Begegnungen ausbauen.
- Es ist nicht nur frauen- und familienpolitisch dringend – auch und gerade für die Bildungsräume selbst – ist ein ausgewogenes Netz von Ganztagsangeboten und Ganztagsschulen interessant und nötig.
- Bildungsinhalte und Wissen verändert sich so rasant, dass sich inzwischen auch Lehrkräfte manch digitale Welten von Schülern erklären lassen. Schule und informelle Bildungseinrichtungen müssen von einem Ort der Belehrung in einen Lern- und Lebensort verwandelt werden. Wir brauchen Orte, wo die Weltsichten der Kinder und Jugendlichen, egal wo sie herkommen, eine entscheidende Rolle beim Lernen spielen. Wir wissen, dass mit derartigen Forderungen eine neuartige Lehrer/-innenausbildung verbunden ist, selbständige Schulkonzepte echte Chancen brauchen, die Kooperation mit außerschulischen Netzwerken vergrößert werden müssen und nicht zuletzt – die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler und der Eltern neu gestaltet werden müssen.
- Die ausreichende Finanzierung des Bildungswesens aus öffentlichen Quellen muss gesichert werden. Nicht der Staat und erst recht nicht die Wirtschaft dürfen der Gesellschaft die Bildungsziele diktieren. Umgekehrt, die Gesellschaft fordert die Verantwortung der öffentlichen Hand für inklusive Bildung mit vielen Gesichtern.
- Zugleich fordern wir auch eine Berufsausbildung und einen Berufsabschluss für alle. Jedem Schulabgänger, jeder Schulabgängerin einen Ausbildungsplatz! Wer nicht ausbildet, soll zahlen!
- stellen wir uns weiterhin gegen Studiengebühren und für die Verbesserung der Studienbedingungen an den Hochschulen und für die demokratische Mitsprache von Studierenden und Lehrkräften.
Hier könnten wir viele weitere Punkte finden und haben mit der heutigen Konferenz auch genug Stoff, um Zusammenarbeit und Austausch möglichst auch vor Ort zu intensivieren.
Verehrte Gäste, Klar ist: In der Bildung kann es uns nicht um die Konditionierung einer flexiblen, ausbeutbaren Arbeitskraft gehen. Es geht um die Lebensqualität, um Selbstbestimmung und darum, mit der Zukunft verantwortungsvoll zurechtzukommen, Migration, auch erzwungene, zu akzeptieren und zu gestalten. In verschiedenen Ansätzen haben wir heute die Frage bewegt: Welche Bildungspolitik brauchen wir für welche Zukunft?
Ein soziales, ein demokratisches und emanzipatorisches Bildungswesen – der Richtungsansatz unserer Bildungspolitik – bietet die Chance, gemeinsam herauszufinden,
- wie sich Kulturen austauschen und verändern,
- wie unsere Lebensgestaltung sozialer und umweltfreundlicher wird,
- wie Geschichte, Kunst, Wissenschaft, Politik eingreift und reichlich Platz für soziale, wirtschaftliche und künstlerische Experimente geschaffen wird,
Denn was brauchen wir in Zukunft?
Vielleicht so etwas wie eine Welt der solidarischen Freiräume. Bildungsinstitutionen sollten hier den Anfang machen und in ihrer Struktur selbst ein Vorbild für eine offene, integrative und freundliche Gesellschaft sein. Genau für einen solchen Ansatz muss auch europäische Bildungspolitik einen Rahmen erkämpfen!