Gute Arbeit statt Prekarität
Artikel aus dem Themenheft: „Prekarität in Europa“, Juni 2010
Die „wettbewerbsfähigste wissensbasierte Ökonomie der Welt“ mit „mehr und besseren Arbeitsplätzen und gestärktem sozialen Zusammenhalt“ sollte die Europäische Union (EU) werden. Von „Vollbeschäftigung“ und „deutlichen Fortschritten bei der Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ war im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie bis 2010 die Rede.
Bereits 2005 war kein Fortschritt bei der Erreichung dieser Ziele erkennbar. Ein „Neustart“ der Strategie mit dem Focus auf „Wachstum und Beschäftigung“ sollte abhelfen. Ursprüngliche Ziele der Strategie wie z.B. „ökologische Nachhaltigkeit“ und „Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ wurden dabei weiter in den Hintergrund gedrängt.
Die Folgen dieser Politik sind sowohl innerhalb wie außerhalb Europas sichtbar. Im EU-Binnenmarkt wird dem Wettbewerb bis in höchste Urteile des Europäischen Gerichtshofs Vorrang vor guter Arbeit und sozialen Standards gegeben. Außenwirtschaftlich wird diese Politik durch „Global Europe“ betrieben, eine 2006 verkündete aggressive Strategie der EU zur Öffnung weltweiter Märkte für europäische Unternehmen. Motor dieser Politik ist nicht zuletzt der bisherige Exportweltmeister Deutschland. Durch diese Freihandelspolitik geraten gerade ärmere Bevölkerungsgruppen in Entwicklungs- und Schwellenländern unter die Räder – übrigens genauso wie eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung der Binnenwirtschaft in Europa und wirtschaftlich schwächere EU-Staaten.
Die Kommission malt dagegen ein schönfärberisches Bild der alten Lissabon-Strategie. Eine breite öffentliche Diskussion darüber wird nicht angestrebt. Gerade sie wäre nötig, um Schlussfolgerungen für die neue Ausrichtung der EU für die kommende Dekade zu ziehen. Dies gilt insbesondere für die „Europäische Beschäftigungsstrategie“. Unbefristet Beschäftigten und Prekarisierten gleichermaßen offeriert man seit wenigen Jahren auf europäischer Ebene das Konzept „Flexicurity“. Die künstliche Verbindung der Begriffe „flexibility“ und „security“ soll eine Versöhnung von Flexibilität und Sicherheit symbolisieren. Damit soll, so die EU-Kommission, „Arbeitnehmern der sichere Übergang von einem Job in den anderen erleichtert werden, ohne dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen leidet“. Auf diese Weise ließe sich auch ein so genanntes europäisches Sozialmodell erhalten. Zu den Maßnahmen, die im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie für mehr „Flexicurity“ sorgen sollen, zählt „die Unterstützung des lebenslangen Lernens, die Verbesserung der Betreuung von Arbeitssuchenden sowie die Förderung der Chancengleichheit für alle und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen.“ (EU-Kommission)
Wohin es in Europa wirklich gehen soll, lässt sich in der Mitteilung der EU-Kommission mit dem Titel „Mehr und bessere Jobs durch Flexibilität und Sicherheit“ aus dem Jahr 2007 nachlesen: „Individuen brauchen zunehmend Beschäftigungssicherheit anstelle Arbeitsplatzsicherheit, weil Wenigere ein Leben lang am selben Arbeitsplatz arbeiten“. Im Klartext: wichtiger als Arbeitnehmerrechte sei es, schnell einen neuen Job zu finden. Die neue EU-Kommission formuliert das noch klarer: ‚Hauptsache Arbeit – zu welchen Konditionen auch immer’ ist die Botschaft (Kommissar Andor).
Was da als „Flexicurity“ daherkommt ist so nicht mehr als das dünne Eis trügerischer Hoffnung vor dem Einbruch, ein sozial- und gesellschaftspolitischer Euphemismus, der in keinem EU-Mitgliedsland sichtbare Erfolge vorzuweisen hat.
Die Ergebnisse der viel gerühmten europäischen Beschäftigungsstrategie zeigen eine ernüchternde Bilanz. Rund 60 Prozent des Beschäftigungswachstums in der EU seit 2000 geht auf das Anwachsen von Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung zurück. Bei der Gesamtbeschäftigungsquote in der EU-27 auf Basis von Vollzeitäquivalenten kommt die europäische Beschäftigungsstrategie nicht vom Fleck: von 2001 bis 2006 stieg die so berechnete Gesamtbeschäftigungsquote nur von 58,2 auf 58,9 Prozent. Die Zahl der befristet Beschäftigten dagegen ist von 22 Mio. in 1997 auf 32 Mio. 2006 gestiegen. Die Teilzeitbeschäftigung betraf vor 12 Jahren noch 32 Mio. Menschen, in 2007 waren es mehr als 40 Millionen. Dazu kommen 31 Mio. formell Selbständige – rund 15 % der Beschäftigten – 2/3 davon waren 2005 zudem ohne weitere Beschäftigung. Rund 31 Millionen Beschäftigte in der EU-27 (15 %) müssen für Niedrigstlöhne arbeiten und insgesamt 17 Mio. aller Erwerbstätigen in der EU sind laut offiziellen Angaben arm trotz Arbeit, mit wachsender Tendenz. Gleichbleibende Beschäftigung bei mehr sozialer Unsicherheit – ein zweifelhaftes „Erfolgsmodell“.
Wesentlichen Anteil daran hat der ausufernde Leiharbeitssektor, der im Zentrum der „Flexicurity-Debatte“ steht. Leiharbeit war zunächst in erster Linie dazu gedacht, vorübergehend ausgefallene Arbeitskräfte zu ersetzen und Produktionsspitzen abzufedern. Heute dient Leiharbeit überwiegend dazu, dauerhaft Kosten zu sparen und die Flexibilität zu erhöhen, insbesondere in Märkten mit gestiegenem Wettbewerbsdruck und unsicheren Absatzchancen. In den meisten EU-Ländern wuchs der Umfang der Leiharbeit zwischen 2004 und 2007 mit zweistelligen Raten. In Deutschland stieg die Beschäftigung im Leiharbeitssektor um über 50 Prozent. 2007 entsprach das von Zeitarbeitern geleistete Arbeitsvolumen über 600.000 Vollzeitstellen. Der französische Leiharbeitssektor ist in etwa so groß wie der deutsche, der britische Leiharbeitssektor kommt auf das Doppelte: Fast 1,2 Millionen „temporary agency workers“ gab es 2007 in Großbritannien in Vollzeitstellen gerechnet. Polen verzeichnete eine Steigerung um gut 90, Griechenland sogar um über 130 Prozent
In fast allen EU-Ländern, in denen es Leiharbeit gibt, existieren Regelungen, die Mindestbedingungen vorschreiben oder die Einsatzmöglichkeiten beschränken. Es gibt in den meisten Fällen vor allem gesetzliche Vorschriften, die die Rahmenbedingungen bestimmen. Darüber hinaus spielen gerade in den EU-15-Staaten auch die meist schwachen Übereinkünfte zwischen den Sozialpartnern eine wichtige Rolle. Einige Länder haben die in Leiharbeitsrichtlinie vorgeschriebene „Equal-Pay“-Regel (Gleicher Lohn für gleiche Arbeit) umgesetzt, zum Beispiel Frankreich, Spanien und Italien. Andere Länder wie Bulgarien, Irland oder Lettland nutzen die „Opt-out“-Möglichkeiten der Richtlinie. Dort bestehen für Unternehmen keinerlei Verpflichtungen, Leiharbeiter zu bezahlen wie Stammbeschäftigte. Auch in Deutschland gilt das „Equal-Pay“-Prinzip praktisch nicht, weil von der Richtlinie in diesem Punkt durch Tarifverträge abgewichen werden kann. Mit Billigtarifverträgen von Scheingewerkschaften geschieht das in großem Stil. Sogenannte „Christliche Gewerkschaften“ und andere Scheingewerkschaften – letztere von ehemaligen sozialdemokratischen Ministern wie Hombach und Gerster initiiert – nutzen das zum großangelegten Lohndumping.
In Summe ist diese Gesamtbilanz eine Bankrotterklärung des vielzitierten – faktisch nicht existenten – europäischen Sozialmodells. Quer durch Europa scheint ein stillschweigender Machtkonsens der selbsternannten Eliten zu regieren: ein bestimmter, nicht geringer Teil der Bevölkerung wird für die Ökonomie schlicht nicht mehr benötigt. Folglich müsse man diesen so kostengünstig wie möglich alimentieren. Die Macht, mit der die bisherigen Wohlfahrtsstaaten in ganz Europa mal mehr, mal weniger geschleift wurden und werden, folgt einer bestimmten Logik: Wenn die erwarteten oder gewünschten Profite für die Eliten nicht mehr stimmen, müssen diese halt bei denen am unteren Rand der Gesellschaft generiert werden. Diesem Credo folgt auch Hartz IV. Es war eben nicht nur eine „dumme Idee“ der modernen deutschen Sozialdemokratie. Dies ist das „Brot und Spiele“ des 21. Jahrhunderts. Jeremy Riffkin, Autor des Buches „Das Ende der Arbeit“, schlussfolgerte in den 90er Jahren: „am Ende der Moderne wartet eine neue Barbarei“.
Diese Barbarei drückt sich heute in „modernen“ Formen der Tagelöhnerei aus: Prekariat ist nicht ausschließlich die so genannte neue „Unterschicht“. Unter den Begriff „Prekäre Beschäftigung“ fallen Arbeitsverhältnisse mit meist niedrigen Löhnen, die selten auf Dauer und Kontinuität angelegt sind, oft keine Absicherung durch die Sozialversicherung und/ oder nur geringe arbeitsrechtliche Schutzrechte aufweisen. Der Begiff Prekariat definiert keine sozial homogene Gruppe. Betroffen sind einkommensschwache Selbständige und ArbeiterInnen, auch Angestellte auf Zeit, PraktikantInnen, chronisch Kranke, Alleinerziehende, LeiharbeitnehmerInnen und Langzeitarbeitslose. Darüber hinaus und zunehmend gehören auch Angestellte aus dem wissenschaftlichen Bereich, insbesondere dem Mittelbau an Hochschulen und Universitäten, dazu. Auch innerhalb des aktiven und noch als relativ „gesichert“ geltenden Beschäftigungssektors wächst die Schichtung der Beschäftigten. Bis in die Reihen der noch unbefristet Beschäftigten hinein wächst die Angst vor dem Absturz ins Bodenlose.
Die Fragmentierung des (Arbeits-)lebens wird in allen europäischen Ländern zur Massenerfahrung. Im ständigen Wechsel von Phasen der Beschäftigung und der Nichtbeschäftigung, verbunden mit der großen Hoffnung, im nächsten Job Kontinuität zu finden. Ständiges, anpassungsbereites Streben nach dieser produziert schon heute selbst gegen die schlimmsten Ungerechtigkeiten spürbar geringere Widerständigkeit. Evelyne Perrin von „Stop Précarité“, einem französischen zivilgesellschaftlichen Netzwerk zur Bekämpfung von Verarmung und der Ausgrenzung des Prekariats, sagt: „In dieser neuen kapitalistischen Organisation der Gesellschaft wird das Prekariat strukturell. Und für die Arbeitgeber geht es darum, dem Prekariat das Risiko der Beschäftigung aufzulasten, alles zu veräußerlichen, was sozialer Schutz und gemeinsame Garantie vor dem Verlust des Arbeitsplatzes war.“
Von der Entwicklung eines neuen sozialstaatlichen Modells sind wir heute weiter entfernt denn je. Obwohl dringend nötig schlägt die neue Strategie der Kommission nicht nur beschäftigungs- und sozialpolitisch keinen anderen Kurs ein. Mit integrierten Leitlinien, länderspezifische Politikempfehlungen und einem Gemeinschaftsprogramm änderte sich zwar der Duktus, die Ausrichtung hingegen bliebt dieselbe. Die neue Strategie der Kommission zu „EU 2020“ versucht, einer neoliberalen Politik einen „grüneren“ (ökologische Innovation, Energiesparen, Klimaziele) und „sozialeren“ (Flexibilität und Sicherheit, soziale Integration) Anstrich zu geben, ohne hierzu konkrete Festlegungen zu treffen.
Auch die vorgelegten beschäftigungspolitischen Leitlinien ergehen sich nur in wohlklingenden Überschriften. Kern der neuen Strategie ist weiterhin die Steigergerung der wirtschaftlichen „Wettbewerbsfähigkeit“ der EU sowie die verschärfte Fortsetzung der Liberalisierung des EU-Binnenmarkts und der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte (Flexicurity) bleiben. Ebenso hält man an der außenwirtschaftlichen Liberalisierungspolitik („Global Europe“) fest und verschärfte diese noch. Die allseits diskutierte Regulierung der Finanzmärkte läuft in Europa allenfalls auf eine bessere „Pannenfreiheit“ des bestehenden Systems hinaus.
Die in der Strategie „EU 2020“ avisierten Ziele stehen darüber hinaus im direkten Gegensatz zur so genannten „Exitstrategie“ der EU. Der Europäische Rat hatte schon im November 2009 beschlossen, die Konjunkturprogramme der Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise möglichst schnell wieder zu beenden. Bereits heute, spätestens jedoch ab 2011 soll die Einhaltung der Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder straff durchgesetzt werden. Damit sind – angesichts der derzeitigen Neuverschuldung der europäischen Mitgliedsstaaten zwischen 5 und 12 Prozent des jeweiligen BIP – die notwendigen Investitionen in Bildung, Soziales, Klimawandel uva. von den Mitgliedsstaaten nicht erbringen.
Stattdessen drohen Sparorgien ungeahnten Ausmaßes. In Griechenland, in Irland und vielen osteuropäischen Mitgliedstaaten sind derzeit brutale Spar- und Kürzungsprogramme zu besichtigen, die wesentlich zu Lasten des sozial schwächeren Teils der Bevölkerung gehen. In weiteren, vor allem den südeuropäischen Ländern ist gleiches zu erwarten bzw. schon geplant. Einen neuer Anlauf zum Abbau des Wohlfahrtsstaats, der sozialen Sicherungssysteme, zum Abbau und zur Privatisierung öffentlicher Dienste ist also eingeleitet, um dadurch „die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten wieder zu verbessern“, um bei der Sprache der EU-Kommission zu bleiben.
Grüne Investitionen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung sozialer Sicherheit werden in dieser Strategie damit hohl klingende Sprechblasen bleiben. Verabredungen unter den Mitgliedstaaten (die Methode der offenen Koordinierung) zur weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters, auch über 67 hinaus, erneut anstehende Auseinandersetzungen um die europäische Arbeitszeitrichtlinie, die bis heute nicht vorliegende soziale Fortschrittsklausel, die zumindest in Teilen gewerkschaftsfeindliche Rechtsprechung des EuGH – all das birgt die Gefahr, dass sozialpolitische Errungenschaften und Arbeitnehmerrechte in der EU in immer stärkerem Maß einplaniert werden.
Die Neuausrichtung der Europäischen Strategie bis 2020 erfordert eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung der Gewerkschaften, Sozialverbände und der gesamten Linken mit dem europäischen Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen.
Konkrete soziale und beschäftigungspolitische Leitbilder und Alternativen liegen auf dem Tisch: die Konzeption „Gute Arbeit“ – besser: menschenwürdiger Arbeit, ergänzt um Mitbestimmungs- und Gestaltungsrechte für die Beschäftigten, um gerechtes Entgelt, mit nachhaltigem Arbeits- und Gesundheitsschutz, mit sozialer Sicherheit und ohne Diskriminierung bedarf deshalb der stärkeren Verankerung innerhalb der europäischen Linken.
In der aktuellen Auseinandersetzung um eine künftige europäische Beschäftigungsstrategie ist eine plakative Zuspitzung z. B. mit folgenden Elementen nötig:
Þ Ein europäisches Leitbild für unbefristete Vollzeitbeschäftigung, von der man armutsfest ein eigenständiges Leben gestalten kann
Þ europaweite soziale Mindeststandards, u.a. eine europaweite verbindliche Mindestlohnregelung auf der Basis von 60% des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens,
Þ verbindliche Richtlinien z. B. bei Leiharbeit, Dienstleistung und Entsendung, die den Grundsatz „Gleiche Arbeitsbedingungen- und rechte für gleichen Lohn am gleichen Ort“ eben nicht nationalstaatlich oder tariflich unterlaufen lässt,
Þ die Begrenzung und drastische Verkürzung von (Höchst-)Arbeitszeiten,
Þ die Stärkung der Arbeitnehmerrechte bei Massenentlassungen und Betriebsverlagerungen incl. einer Verlagerungsabgabe zur Finanzierung der gesellschaftlichen Kosten von Betriebsschließungen,
Þ die Erhaltung und den Ausbau sozialer Sicherungssysteme und
Þ die Erweiterung von Mitbestimmungsrechten der Belegschaften und Gewerkschaften als Voraussetzung für einen sozialen Dialog auf gleicher Augenhöhe.
Dieses Konzept muss in eine integrierte EU-Strategie eingebunden sein. Nötig ist die Ausrichtung auf eine wirtschaftlich, sozial ökologisch und beschäftigungspolitisch nachhaltige Entwicklung. Dazu gehören EU-weit verbindliche Ziele z.B. zu Klimaschutz, Verringerung des Ressourcenverbrauchs, Abbau von Erwerbslosigkeit und Armut sowie eine beschäftigungs- und ökologisch orientierte Industriepolitik.
Den Debatten über die Nachfolge-Strategie zu Lissabon nach dem Prinzip „Alter Wein in neuen Schläuchen“ setzen wir eine integrierte Strategie für Solidarität, Entwicklung und soziale Integration entgegen – die Leitidee für ein solidarisches europäisches Projekt .