Das Säbelrasseln beenden – die globalen Probleme gemeinsam angehen!

Vor dem Hintergrund der Debatten des Europäischen Parlaments, die diese Woche zum Verhältnis EU und Russische Föderation im Plenum geführt wurden, kommentiert Helmut Scholz, EU-Abgeordneter von DIE LINKE:

Vor dem Hintergrund der Debatten des Europäischen Parlaments über die Auflösung der Sowjetunion, die Verleihung des Sacharow-Preises an Alexej Nawalny, die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze sowie die Positionierung zum Verbotsverfahren gegen die NGO Memorial in Russland kommentiert der Europaabgeordnete Helmut Scholz:
 

Die Debatten und Ereignisse rund um das Verhältnis Europäische Union – Russische Föderation in dieser Woche im Europaparlament haben abermals die Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit der Beziehungen mit Russland belegt. Und deutlich gemacht, wie festgefahren die Positionen sind. Die Kompassnadel in Brüssel und auch im Europäischen Parlament zeigt auf Konfrontation. Umso prekärer, als im Unterschied zu der Zeit bis vor 30 Jahren kein gesellschaftlicher Systemwiderspruch existiert, sondern eine Rivalität um politische Machtpositionen auf dem europäischen Kontinent und global, in der die historischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts erneut zunehmend ideologisiert und instrumentalisiert werden. Dazu gehört, dass auch die Bemühungen der konservativen und rechten politischen Kräfte um eine Neuschreibung bzw. Interpretation europäischer Geschichte fortgesetzt werden.

Deutlich wird auch, dass 30 Jahre nach Auflösung der damaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz UdSSR oder Sowjetunion, die EU noch immer über keine tragfähige Strategie verfügt, die die Bewältigung der gemeinsamen Probleme in den Mittelpunkt stellen würde. Und damit anders als auch von Russland traditionell betrieben, einen wirklich neuen konstruktiven Ansatz für die Lösung der gleichermaßen vor allen 27 EU-Mitgliedstaaten, der Russischen Föderation wie der Staaten der östlichen Nachbarschaft oder der in der GUS verbleibenden Länder stehenden Aufgaben zur Grundlage außenpolitischen Handelns finden würden. Vergessen sind die nun auch schon gut 30 Jahre alten gemeinsamen Pläne, ein gesamteuropäisches Haus zu bauen, Frieden und ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu gestalten und die dafür notwendigen Baupläne und Feinjustierungen gemeinsam zu entwickeln. Nicht von ungefähr, haben sich doch die Russische Föderation (RF) und die EU in diesen drei Jahrzehnten verändert. Gerade die mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten mit ihrer mit der Sowjetunion verknüpften Geschichte und ihren sehr unterschiedlichen Erfahrungen und je nach politischer Verortung entwickelten Positionen beanspruchen prägnante Mitsprache bei der Erarbeitung außenpolitischer Hauptlinien gerade gegenüber der RF und bei der Ausgestaltung der östlichen Nachbarschaftspolitik. Andererseits verlangt die Russische Föderation als Nachfolgestaat der RSFSR in Erinnerung und Würdigung an die 26 Millionen Toten bei der Niederschlagung des Hitlerfaschismus und japanischen Militarismus und im Wissen um militärische Konfrontation und Hochrüstung im Kalten Krieg mit Recht Sicherheitsgarantien und keine Ausweitung der NATO bis an ihre Grenzen.

Ein außenpolitischer Narrativwechsel ist dringend notwendig. Im Kampf gegen den Klimawandel –  uns allen nachdrücklich ins Bewusstsein gerückt angesichts der Brände am Mittelmeer oder in den schwedischen Wäldern, in Sibirien und am prekärsten mit den verheerenden Langzeitfolgen des voranschreitenden Auftauen von Permafrostböden –, für die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele oder, gerade jetzt, die Bekämpfung der globalen Corona-Pandemie müssen wir Potentiale zusammenzuführen, anstatt neue Grenzen zu ziehen, Gräben auszuheben;  sind Transparenz über Beweggründe und Handlungsstränge in den politischen und sozialen Diskursen der Gesellschaften in der RF als auch der EU27 zu gewährleisten, damit das Bedienen alter Klischees und Vorurteile beendet wird, damit die Menschen sich wieder kennenlernen und Dialoge möglich sind. Die Aufarbeitung der Zusammenhänge historischer Entwicklungen gehört auf den Tisch der Geschichtsforschung und -aufarbeitung und darüber in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs.

Politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich heißt es, sich Gegenwart und Zukunft zu stellen und dazu gehört, den Staat im Osten nicht als Feind, sondern als Partner zu sehen, in all der Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Veränderungen. Aber gerade dies wird derzeit noch immer nicht getan, sondern vielmehr – wie von einer Mehrheit im Europaparlament – verbal mit den Säbeln gerasselt, und zunehmend auch militärisch aufgerüstet. Diese Spirale ist zu beenden.

Das Säbelrasseln der Regierung der Russischen Föderation wirkt da wie ein Brandbeschleuniger. Der Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist nicht nur provokant und unnötig, sondern zeigt auch die Nichtbereitschaft in Moskauer Regierungskreisen, die Fakten eigener gesellschaftlicher Entwicklungen in den neuen unabhängigen Staaten nach dem Ende der Sowjetunion anzuerkennen.

Die Repression gegen Alexej Nawalny und andere, sehr unterschiedliche oppositionelle Kräfte in der RF und dessen Verurteilung sind ohne jeden Zweifel politisch motiviert und unwürdig für einen Staat, der für sich in Anspruch nimmt, demokratisch zu sein.  Das jetzt verschärfte faktische Verbotsverfahren gegen die russische zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisation Memorial wirft erneut Fragen auf in Bezug auf Transparenz, Ehrlichkeit und Unparteilichkeit des russischen Staatsapparates. Umso mehr, als sich diese Organisation mit der Aufarbeitung der unter Stalin verübten Verbrechen beschäftigt. Gerade weil sie sich damit in die Gestaltung einer demokratischen, pluralen und auf partizipative Strukturen setzenden modernen Gesellschaft einbringen wollen. Leider reagieren hier Rat und Europaparlament ebenso verkürzt; setzen sie auch in diesem Falle auf Fortsetzung und Verschärfung der Sanktionen gegen Russland – ein kontraproduktives Vorgehen. Ich sage deutlich, dass das „Agentengesetz“ fehl am Platz ist, und erst recht ist dieses fadenscheinige, mutwillig zusammengeschusterte Vorgehen gegen Memorial nicht zu akzeptieren.

Es ist legitim, Kritik zu üben an der Entwicklung in Russland – wie überall, am Vorgehen gegen Oppositionelle, an der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft, am autokratischen Kurs des Präsidenten. Gerade wir Linken haben uns wiederholt dazu geäußert und uns dazu eindeutig positioniert. So sind für uns politische und soziale Menschenrechte ebenso wie demokratische Grundfreiheiten unteilbar und gelten universell. Nicht legitim ist es jedoch, ausschließlich mit westeuropäischen Maßstäben zu messen, auch weil diese sehr oft den eigenen Messlatten nicht entsprechen. Nicht legitim ist es, eine hasserfüllte Rhetorik gegenüber Moskau an den Tag zu legen, objektive Interessen Russlands zu missachten – wie in der Sicherheitspolitik, Stichwort Einkreisung durch die NATO oder in seiner Außenwirtschaftspolitik.

Russland war, ist und bleibt nicht nur ein wichtiger wirtschaftlicher und politischer Partner und Akteur bei der Meisterung der globalen Herausforderungen. Wir stehen auch in der historischen Verantwortung, ein konstruktives, kooperatives Verhältnis zu Russland herzustellen und zu bewahren. Ein Politikansatz des massiven Drucks läuft einer zukunftsfesten Ausgestaltung des bilateralen Verhältnisses EU – Russische Föderation und vieler seiner Auswirkungen auch auf die Nachbarschafts-und Beitrittspolitik der EU zuwider. Ebenfalls in dieser Woche berät der Gipfel zur Östlichen Nachbarschaftspolitik der EU. Ein Blick auf die Fortschrittsberichte der vielfältigen vertraglichen Grundlagen, darunter der Assoziationsabkommen mit den umfassenden Handels- und Wirtschaftskooperationsverträgen zeigt eine sehr differenzierte und auch widersprüchliche Bilanz. Hier ist die weitere Zusammenarbeit so anzupassen, dass alle Menschen Nutznießer*innen der bilateralen Zusammenarbeit sind, dass nicht nur wirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt stehen, sondern ein aktiver Beitrag zur Überwindung der auch in der Ukraine, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan wachsenden sozialen Polarisierung geleistet wird, dass kulturelle und bildungspolitische Programme der Jugend neuen Perspektiven in der Heimat schaffen. Und nicht zuletzt heißt das: Ohne eine Veränderung des bilateralen Verhältnisses der EU zur Russischen Föderation und eine Berücksichtigung eines legitimen Interesses und Rechts Russlands an partnerschaftlichen, jeweils eigenständig zu vereinbarenden Beziehungen der Zusammenarbeit mit den Ländern in seiner Nachbarschaft und somit insgesamt an einem konstruktiven Verhältnis zu Moskau, wird diese Politik im Sande stecken bleiben.