Von Helmut Scholz, MdEP, Delegation DIE LINKE im Europaparlament, Ausschuss für Internationalen Handel

von Helmut Scholz, MdEP, Delegation DIE LINKE in der Fraktion GUE/NGL im Europaparlament, Koordinator der Fraktion im Ausschuss für Internationalen Handel

Als ich zu Beginn meiner Arbeit im Internationalen Handelsausschuss des EP vor einigen Jahren Spitzenvertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie nach ihrer Meinung zu den Gerüchten über baldige Freihandelsverhandlungen zwischen EU und USA fragte, zeigten sie sich skeptisch. Der Vorschlag hätte immer mal wieder im Raum gestanden, es seien verschiedentlich auch erste Schritte in diese Richtung gegangen worden aber das Unterfangen habe sich stets noch als zu schwierig erwiesen. Im März 2014 räumte ein Sprecher des Transatlantic Business Council in einer Anhörung im Europaparlament dann aber tatsächlich ein, man habe seit mehr als zwanzig Jahren daran gearbeitet, einen gemeinsamen transatlantischen Binnenmarkt zu schaffen. Warum wagen Regierungen in der EU und den USA den Schritt aber gerade jetzt? Die Antwort gab Präsident Obama in einer Rede an einer amerikanischen Universität im Februar 2013. Er sei optimistisch, dass in der Situation der Finanz- und Wirtschaftskrise »die üblichen Bedenkenträger« andere Sorgen hätten. Zugleich stehen die EU und die USA am Anfang des 2. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts vor völlig neuen wirtschaftspolitischen Herausforderungen – sie sind nicht mehr die alleinigen Champions die das Rennen um wirtschaftliche Dominanz, Rohstoffe und Profite allein unter sich ausmachen.    

Noch im Herbst 2011 hatte der amerikanische Präsident ganz anders geklungen und in einer Rede vor dem US Kongress Investitionsprogramme gegen die Krise auf beiden Seiten des Atlantiks gefordert und den Austeritätskurs der EU für falsch erklärt. Kurz darauf wurde dann auf dem EU–USA Gipfel in Washington die Einsetzung einer »Hochrangigen Arbeitsgruppe für Arbeitsplätze und Beschäftigung« verkündet, ein Titel, den die von der Krise geplagte Bevölkerung hören wollte. Geleitet wurde die Arbeitsgruppe jedoch vom EU-Handelskommissar De Gucht und seinem US-amerikanischen Konterpart. Ergebnis: Verkaufen wir unseren Leuten doch bei der Gelegenheit endlich das große Freihandelsabkommen, das TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft).    

Für ihre Empfehlung hatte die Arbeitsgruppe zuvor viel konsultiert, überwiegend Verbandsvertreter von Konzernen. Diese präsentierten lange Wunschzettel, in denen es neben Zollabsenkung vor allem um die Abschaffung von Handelsbarrieren hinter den Schlagbäumen ging, also Unterschiede in der Produktzulassung, bei Normen und Standards. Zudem präsentierten die American Chamber of Commerce und Business Europe einen gemeinsamen Standpunkt, wie in einem Abkommen Mechanismen verankert werden könnten, um Regulierungen anzupassen und insbesondere für die Zukunft neue Abweichungen zu verhindern. Das fand der EU Kommissar sehr spannend und entwickelte auch gleich selbst eine Verkaufsstrategie. Durch TTIP würde die in vielen EU Mitgliedstaaten und den USA stagnierende Wirtschaft boomen, mehr Exporte für alle (wer soll das eigentlich kaufen?), mehr Arbeitsplätze für alle (ohne dass dafür der Job eines anderen verloren geht?), mehr Geld für jede Familie (haben Sie auch ein Exportunternehmen zuhause?).    

Gestützt werden diese Versprechungen durch von der EU Kommission notwendigerweise selbst in Auftrag gegebene und bezahlte »unabhängige« Studien. Deren Ausgangsthese für einen wirtschaftlichen Erfolg ist die Abschaffung von fast 100 Prozent der Zölle und die Beseitigung von bis zu 50 Prozent der Unterschiede in den Regulierungen. Das wiederum alarmierte linke Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Verbraucherschutzorganisationen, Bauernverbände und Gewerkschaften. Weil die bisherige Praxis und der Alltag nach Abschluss solcher bilateraler Verträge meist andere Folgen für die Mehrheit der Bevölkerungen mit sich brachten. Und so bläst der Kommission inzwischen schon starker Gegenwind ins Gesicht. Sie hat die Kommunikationsstrategie deshalb gewechselt und versichert bei jeder Gelegenheit, keiner unserer hohen Schutzstandards würde durch TTIP verändert oder gar verringert. Welche der beiden Aussagen ist also falsch: wir erhalten Wirtschaftswachstum durch Angleichung der Standards, oder unsere Standards sind ungefährdet?    

Die Verhandlungsdokumente, und dabei nur die EU-seits präsentierten, in die ich als einer von nur sieben Europaabgeordneten Einblick habe, weisen keinen Wandel in der ursprünglichen Zielsetzung der bislang vier Verhandlungsrunden nach. Was ich sehen kann, ist dass die Kommission tatsächlich angeboten hat, für 97 Prozent aller Güter die Einfuhrzölle auf Null zu senken. Die USA boten hingegen nur 80 Prozent. Empörung in der EU Kommission. Berechtigte Sorge bei allen Bauern und Landwirtschaftsministern.    

Angekündigt hat die Kommission vor den nächsten beiden Verhandlungsrunden im Mai und Juli 2014 nun auch einen Textvorschlag für eines der Kernstücke der beabsichtigten Partnerschaft: wie soll ein künftiger Regulierungsrat beschaffen sein, über den nicht nur Industrienormen vereinheitlich werden sollen, sondern auch ein gegenseitiges Konsultationsverfahren zu beabsichtigten jeweils neuen Gesetzentwürfen in allen Bereichen der Wirtschafts- und auch Finanzpolitik. Das wirft die Frage nach Zusammensetzung, Befugnissen und demokratischen Kontrollmöglichkeiten eines solchen Gremiums auf. Soweit verlautbart, wäre dieser Rat allerdings nicht mit Abgeordneten besetzt, sondern mit Beamten aus den Exekutiven. Der Wunschzettel von AmCham und Business Europe würde erfüllt. Die US-amerikanische Seite hält ihre Position wegen des beginnenden Wahlkampfes zum US-Kongress hierzu jedoch noch bedeckt.    

Die Existenz eines anderen Vorschlags der Amerikaner hat mir die EU Kommission hingegen auf meine Nachfrage bestätigt: sie wollen eine Beitrittsklausel zum TTIP für weitere Länder, denken dabei selbst zunächst an ihre NAFTA Schwestern Mexiko und Kanada. Wer kommt da noch? Wie war das mit der Wirtschafts-NATO? Die Operation TTIP gewinnt weiter an Dimension. Zumal sich beide – EU und USA – parallel in weiteren großen Verhandlungen befinden.    

Die USA sind neben diesen TTIP-Verhandlungen bereits seit längerem parallel in intensiven Gesprächen zum Abschluss einer »Transpazifischen Handelspartnerschaft« (TTP) und bemühen sich in dieses Abkommen Kapitel zu vielen weiteren gesellschaftlich relevanten Themen wie zum Beispiel Beschränkung der Internetfreiheit (ACTA reloaded) aufzunehmen. Die EU steht ihrerseits in Verhandlungen über so genannte umfassende und vertiefte Freihandelsabkommen mit Kanada, Japan, vielen südostasiatischen Staaten und den südamerikanischen Mitgliedern der Zollunion MERCOSUR. Dazu kommen noch die EPA-Verhandlungen mit afrikanischen Regionen. Chinas Angebot, ein Freihandelsabkommen zu verhandeln, wurde bislang seitens der EU verworfen, begonnen haben aber Verhandlungen über ein Investitionsschutzabkommen, inklusive offensivem Marktzugang, für das ich der zuständige Berichterstatter des Europaparlaments bin. Zu bedenken ist in diesem Gesamtzusammenhang der Bestrebungen nach Neustrukturierung der internationaler Handelsarchitektur, dass im Völkerrecht internationale Abkommen bindend sind und nationales oder EURecht überwiegen. Wenn diese Abkommen immer stärker zur Normensetzung verwendet werden, verringert sich gleichzeitig der Handlungsspielraum von Parlamenten und Regierungen. Selbst wenn Sie als Bürgerinnen und Bürger eine Regierung abwählen, gilt: Verträge sind einzuhalten. Es kommt deshalb neben der Festlegung über den Charakter der Gesetzgebung gerade auch auf den Inhalt von Verträgen, auf die verbindliche Verankerung der Rechte und Befugnisse der von den Verträgen betroffenen Subjekte an.    

Diese Verringerung des »Investitionsrisikos« Demokratie ist ein Ziel von Konzernstrategen. Um sich noch weiter abzusichern, fordern sie zudem ein Klagerecht gegen Regierungen, falls deren Entscheidungen im öffentlichen Interesse dem Investoreninteresse zuwider laufen. Das ist nicht neu, gewinnt aber vor dem Hintergrund der Dimension der heutigen globalen Wertschöpfungsketten erhebliche gesellschaftspolitische Bedeutung. Die Abkürzung dafür lautet ISDS. Statt in einer solchen Situation nationale Gerichte oder den EuGH mit einer Güterabwägung zu beauftragen, soll die Entscheidung sogenannten Sonderschiedsgerichten, zusammengesetzt aus jeweils drei »Fachleuten« aus der Welt der internationalen Finanz- und Wirtschaftsanwälte übertragen werden. US-Regierung und EU-Kommission haben tatsächlich vor, auch in der TTIP eine solche Struktur zu verankern. Was beim EU-Kanada-Abkommen öffentlich fast unbemerkt blieb, oder auch in den unzähligen bilateralen Investitionsabkommen der 28 EU-Mitgliedsstaaten kaum Protest oder Widerstand hervorgerufen hat (auch die 3,5 Mrd. Klage von Vattenfall gegen die Bundesregierung wegen des beschlossenen Atomausstiegs und damit veränderter Gewinnerwartungen des schwedischen Staatskonzerns hat in Deutschland bislang weder Bundestag noch die Öffentlichkeit beunruhigt) hat mit TTIP Aufmerksamkeit erfahren. Zu Recht. Es geht eben auch um die heutige und künftige Ausformung der EU-Investitionspolitik – die in die Gesetzgebungskompetenz der EU fällt. Und das Europaparlament muss und kann als Gesetzgeber mitentscheiden.    

Ins Zentrum der Kritik geraten, wurde dieses Kapitel in den Verhandlungen nun für eine dreimonatige Konsultation in und mit den 28 EU-Mitgliedstaaten ausgesetzt. Ich bitte dringend darum, sich daran kritisch zu beteiligen. In die Ecke gedrängt seufzte Handelskommissar De Gucht am 1. April 2014 vor dem Handelsausschuss des EP bereits: »ISDS ist nicht Teil meiner Religion. Sollten die USA zustimmen, ISDS fallen zu lassen, dann sei es so. Aber die werden das nicht tun.« Kein Aprilscherz.    

Das Netzwerk der bilateralen Handelsabkommen zwischen Staaten oder Regionen (EU–Mittelamerika, EU–Andenstaaten) wird völlig intransparent gewoben und versucht eine neue Welt-Wirtschafts-Ordnung mit Inhalten zu schaffen, wie sie auf der multilateralen Ebene der WTO, der UNO oder der ILO nicht durchgesetzt werden konnten. Diese Ordnung entspricht dem Bedarf von global operierenden Konzernen, spiegelt ihre neuen globalen Produktions- und Wertschöpfungsketten wider. Gleichzeitig entwickeln die Abkommen eine hohe Bindungskraft für die Ökonomien der Peripherie an die Zentren der alten Wirtschaftsmächte. Diese Sicherung von Zulieferketten und Ressourcenzugang ist heute so spielentscheidend wie einst die Sicherung des Ölnachschubs.    

Während dies geschieht, denken die Bürgerinnen und Bürger ihre Demokratien überwiegend in nationalstaatlichen Kategorien. Vielen ist gar nicht bekannt, dass es in der Europäischen Union seit dem In-Kraft-Treten des Lissaboner Vertrages das Europäische Parlament ist, dass zu allen internationalen Handelsabkommen am Ende Ja oder Nein sagt, sagen muss, gleichberechtigt mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, denen deren Parlamente dabei noch viel stärker auf die Finger sehen sollten.    

Es ist sehr wichtig, dass es in vielen EU-Mitgliedstaaten, besonders breit geführt jedoch in Deutschland, heute eine so tiefe Debatte über das TTIP gibt. Es geht um essentielle Fragen, wie wollen wir produzieren, wie konsumieren wir, wie wollen wir in Zukunft leben? Welches Essen kommt auf unseren Tisch, welche Chemikalien umgeben uns, welche Form von Landwirtschaft wollen wir, was dürfen unsere Kommunen entscheiden, wie funktionieren unsere Demokratien? In dieser Broschüre zum TTIP schreiben Abgeordnete, eine Ministerin, AktivistInnen und FachexpertInnen. über eine Fülle von Aspekten, die dieses umfassendste Freihandelsabkommen aller Zeiten berührt. Für alle Autorinnen und Autoren sind ihre Kontaktdaten angegeben, um den Diskurs noch vertiefen zu können. Dazu will die Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament mit dieser Broschüre einen Beitrag leisten. Denn Beispiele wie ACTA haben uns in der Vergangenheit gezeigt, dass die Debatte der Öffentlichkeit großen Einfluss auf das Vorgehen der Unterhändler am Verhandlungstisch haben kann und vielleicht am Ende sogar zu einer Mehrheit im Europaparlament führen kann, die das TTIP-Abkommen ablehnt.    

 

Der Europaabgeordnete Helmut Scholz ist Koordinator der Linksfraktion GUE/NGL im Handelsausschuss des Europäischen Parlamentes, Mitglied der Steuerungsgruppe für das TTIP des Präsidenten des Europaparlaments, Mitglied der Delegation für die Beziehungen zwischen EP und dem US Kongress und des Transatlantic Legislators’ Dialogue. Sie erreichen ihn unter helmut.scholz@ep.europa.eu