Mangelware Demokratie
von Helmut Scholz
Die Bürgerinnen und Bürger stellen der EU ein schlechtes Zeugnis aus. Nur noch 30 Prozent der bei der jüngsten Eurobarometer-Umfrage zur Stimmung in der EU Befragten
haben von der Gemeinschaft ein positives Bild, fast genauso viele sehen sie ausdrücklich negativ. Die gegenwärtig – auch bereits hierzulande spürbare – Krise und die dramatische wirtschaftliche und soziale Lage in der Europäischen Union, die durch die sogenannte Austeritätspolitik immer weiter verschärft wird, sind nachvollziehbar entscheidender Hintergrund dieser Bewertung. Aber ebenso offensichtlich ist, dass „Europa“ als politischer Entscheidungsraum für sehr, sehr viele Menschen noch immer ein undurchschaubares Gebilde ist, in dem über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen getroffen werden, in der aus ihrer Sicht ihre Anliegen nicht gehört und ihre Interessen nicht berücksichtigt werden. Wer weiß schon und kümmert sich darum, wie Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, welche Aufgaben und Kompetenzen die einzelnen Institutionen haben, wie das Zusammenwirken mit den mitgliedstaatlichen zuständigen Gremien real funktioniert und vor allem, dass die 27 Regierungen, die ihren Sparkurs gern mit dem Verweis auf „Brüssel“ begründen, diese Positionierungen vorher selbst im Rat getroffen haben?
Mehr noch: Das Demokratiedefizit, an dem EU-Europa krankt, hat sich in der Krise deutlich vergrößert. So besteht die sogenannte Troika, Inbegriff der Bevormundung ganzer Staaten und ihrer Bevölkerung, aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und einer Nicht-EU Institution: des Internationalen Währungsfonds. Und es stellt sich schon die Frage, wer, wo und wann von den Regierenden Entscheidungsprozesse transparent macht, Mandate diskutiert und zu getroffenen Entscheidungen Rechenschaft ablegt. Weder diese einzelnen Institutionen noch die Troika als Ganzes unterliegen einer demokratischen Kontrolle. Die nationalen Parlamente sind von vielen Entscheidungen zur „Krisenbewältigung“ abgeschnitten; die Weichen werden zumeist von den Vertretern der Regierungen jenseits einer öffentlichen Debatte gestellt und die Rezepte ultimativ den „Krisenstaaten“ vorgegeben. Diese Kompromissentscheidungen widerspiegeln auf der EU-Ebenen eine scheinbare Alternativlosigkeit, weil die 27 (bald durch den Beitritt Kroatiens 28) nationalen Regierungen als gemeinsame EU-Institution auftreten und das Europäische Parlament weitgehend ausgeblendet bleibt.
Angesichts dieser Entwicklungen wirken die kleinen Schritte zur Demokratisierung der EU wie Tropfen auf den heißen Stein. Ja, es ist gut, dass es seit einem Jahr das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative gibt. Doch die Hürden für eine erfolgreiche EBI sind hoch gelegt: Damit die EU-Kommission sich eines von den Bürgerinnen und Bürgern als wichtig erachteten Sachverhalts annimmt – das ist Ziel einer EBI –, müssen eine Million Unterschriften in mindestens sieben Mitgliedsländern gesammelt werden, dies in einem Zeitraum von zwölf Monaten und unter Beachtung verschiedener Vorschriften. Am Ende entscheidet die Kommission, wie ernst sie den Bürgerwillen nimmt, was in Bezug auf das konkrete Anliegen real geschehen soll oder ob sie gar die Listen in der Ablage versenkt. Eine tatsächliche Bürgermitsprache und -entscheidung wird so zumindest stark behindert. Umso wichtiger ist der Erfolg, den jetzt die Bürgerinitiative „Wasser ist Menschenrecht“ – als erste erfolgreiche EBI erreichte: Eine Anhörung muss sich mit dem Herausnehmen des Wasser aus den Ausschreibungsverpflichtungen der EU-Konzessionsrichtlinie beschäftigen: Wasser ist Menschenrecht, und keine dem Gewinnstreben großer Unternehmen unterzuordnende Ware, sondern Gemeingut.
Der weiteren demokratischen Aushöhlung der EU kann jedoch entgegen gewirkt werden. Dazu brauchen wir mehr gemeinsame Verständigung darüber, wie Entscheidungen die alle Menschen in der EU betreffen auch durch alle in der EU lebenden Menschen begleitet, entschieden und gestaltet werden können: Demokratie ist immer ein normsetzender Vorgang. Mit dem Ausbau der EBI zu einem wirklich handhabbaren Instrument, z.B. durch die vertragliche Neugestaltung des europäischen Vertragswerks, um Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Kontrolle insbesondere der Finanzmärkte konkret festzuschreiben, durch die Stärkung der verschiedenen Formen der partizipativen Demokratie und die volle Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments gegenüber Rat und Kommission. Dafür setzt sich nicht zuletzt die Linke ein.