„EURATOM sichert die Privilegien und die Profite der Atomindustrie!“
Europaparlamentarierin Sabine Wils fordert eine öffentliche Diskussion über EURATOM
Interview aus NATURFREUNDiN, Ausgabe 3-2012
Frau Wils, die Europäische Atomgemeinschaft EURATOM wurde 1957 gegründet. Mit welchem Ziel?
Sabine Wils: EURATOM entstand damals parallel zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Präambel des EURATOM-Vertrages bestimmt den Zweck: „[…] in dem Bewusstsein, dass die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt“. Die sechs Gründungsstaaten wollten die Materialien und Technologien zur Kernspaltung unter eine gemeinsame Kontrolle stellen und die Nuklearforschung und den Bau von AKW gemeinsam finanzieren. Der Vertrag gilt unbefristet und automatisch für alle EU-Staaten. Auch wenn sie einen Atomausstieg beschlossen haben oder gar keine Reaktoren besitzen, zahlen sie für die Atomindustrie.
Der EURATOM-Vertrag ist also eine Art Grundgesetz für die Atompolitik der EU?
Sabine Wils: So kann man das nicht sagen! EURATOM sichert die Privilegien der Atomindustrie und ihre satten Profite – auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung. Grundrechte, wie etwa das Grundgesetz, sichert er dagegen nicht: Das EU-Parlament hat keinerlei Mitentscheidungs-, sondern nur ein Anhörungsrecht. Der Ausschuss für Wissenschaft und Technik, das Lobbyorgan der Atomindustrie, besitzt demgegenüber eine mächtige Position, indem er der EU-Kommission die Gesetzestexte vorschlägt. Diese Tatsache macht das Demokratiedefizit des EURATOM-Vertrags offensichtlich.
Es geht auch um Geld. Wie läuft das?
Sabine Wils: Die Finanzierung von EURATOM läuft über den allgemeinen EU-Haushalt in Form des EURATOM-Forschungsrahmenprogramms und über direkte Kredite. Das 7. Forschungsrahmenprogramm von 2001 bis 2013 hat einen Umfang von 5,2 Milliarden Euro. Mit den direkten Krediten – bisher über 3,5 Milliarden Euro – förderte die Kommission bis zum GAU von Tschernobyl den Neubau von Atomkraftwerken und seit 1994 auch die Modernisierung von AKW in Ost- und Mitteleuropa, deren Laufzeiten dann verlängert werden.
2009 wurde der nahezu unveränderte Vertrag aus dem Jahr 1957 Bestandteil der Europäischen Verfassung. Wie kam es dazu?
Sabine Wils: Der Vertrag von Lissabon wurde von einem Verfassungskonvent erarbeitet. Das Präsidium lehnte eine Einbeziehung des EURATOM-Vertrags in die demokratische Arbeit des Konvents ab und rettete den Vertrag so unverändert über die Verhandlungen. EURATOM behielt seine eigenständige Rechtspersönlichkeit und wurde durch ein Zusatzprotokoll an den EU-Verfassungsvertrag angepasst. Obwohl fünf Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine zügige Reform einforderten.
Die Bundesrepublik hat den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, überweist EURATOM jährlich aber 290 Millionen Euro für die weitere Erforschung der Atomkraft. Das ist ziemlich viel Geld für etwas, das man nicht mehr will.
Sabine Wils: Das kann man wohl sagen! Durch die Verflechtung der Institutionen der EU und EURATOM zahlt die Bundesrepublik Deutschland über den Umweg des EU-Haushalts nach Art. 4–11 des EURATOM-Vertrages Geld für diese Forschungsförderung. Doch ob die deutsche Bundesregierung tatsächlich am sogenannten Atomausstieg festhält, werden die nächsten Wahlen zeigen. Der Ausstieg aus dem rot-grünen Ausstiegskompromiss rief unschöne Erinnerungen an den Einfluss der Atomkonzerne wach, die viel Geld mit Atomstrom verdienen. Deswegen tritt DIE LINKE für eine Verankerung des Atomausstiegs und des Verbots der Nutzung von Atomstrom im Grundgesetz ein.
Die Linksfraktion möchte, dass die Bundesrepublik aus EURATOM aussteigt. Wer noch?
Sabine Wils: DIE LINKE als Partei kämpft an der Seite der Anti-Atomkraft-Bewegung für die Abschaffung von EURATOM. Neben der Aktion der Naturfreunde „1.000 Gipfel gegen EURATOM“ fordern beispielsweise auch die Bürgerinitiative Lüchow- Dannenberg, die Kampagnen .ausgestrahlt und contrAtom sowie der BUND und das Umweltinstitut München die Abschaffung des EURATOM-Vertrags.
Ein Argument, die Summen weiter zu bezahlen, lautet, wir seien vertraglich dazu verpflichtet und EURATOM als Teil der europäischen Verfassung sei gar nicht kündbar. Wie ist Ihre Position dazu?
Sabine Wils: Der EURATOM-Vertrag ist nach Artikel 208 unbefristet gültig, deswegen vertreten Atomlobbyisten diese Position, um ihren Einfluss zu sichern. Es gibt aber auch andere Rechtsauffassungen: Unter Fachleuten werden mehrere mögliche Wege zum Austritt aus EURATOM diskutiert. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einer Ausarbeitung für die Linksfraktion nachgewiesen, dass der EURATOM-Vertrag kündbar ist. Allerdings steht das derzeit im Gegensatz zur Rechtsauffassung des juristischen Dienstes der EU-Kommission.
Nun sind Sie Europa-Abgeordnete, also quasi ganz nah dran an der Europäischen Atomgemeinschaft. Welche Mehrheiten gibt es zu EURATOM im Parlament? Welche Position vertritt die EU-Kommission?
Sabine Wils: Das Parlament hat leider keine Handhabe gegen EURATOM. Aber wie sich etwa bei der Endlagerrichtlinie gezeigt hat, sind die Atomkraftbefürworter im EU-Parlament in der Mehrheit. Auch EU-Energiekommissar Günther Oettinger sichert trotz seines öffentlichen Auftretens für strenge AKW-Stresstests den influss der Atomlobby in der Kommission. DIE LINKE im Europäischen Parlament stellt den EURATOM-Vertrag zwar in den Mittelpunkt ihrer parlamentarischen Anti-Atom-Arbeit. Leider ist aber ein Teil meiner Fraktion für die Atomenergie – die kommunistischen Parteien Tschechiens und Portugals. Ich setze aber auch viel Hoffnung in die Umweltbewegungen und möchte durch eine Konferenz in Brüssel die europaweite Vernetzung der Anti-Atom-Bewegungen zum Thema EURATOM fördern.
Und was können die Menschen in Deutschland gegen EURATOM tun?
Sabine Wils: Wir brauchen vor allem eine öffentliche Diskussion. Nach über einem halben Jahrhundert scheinen sowohl EU-Bürger als auch Politiker die Existenz dieses Vertrages vergessen zu haben. Aber EURATOM sichert die Privilegien der Atomindustrie auf EU-Ebene strukturell ab und verhindert einen europaweiten Atomausstieg. Im Licht der Öffentlichkeit fällt es den Regierungen schwerer, die Subventionierung der Atomkonzerne in Zeiten knapper Kassen zu erklären. Wenn die EU-Kommission die Ausweitung der direkten Kreditlinie für AKW beantragt oder das nächste EURATOM-Forschungsrahmenprogramm verhandelt, müssen viele Menschen auf die Straße gehen.
Interview: Nick Reimer
NATURFREUNDiN, Ausgabe 3-2012 (5MB)PDF-Datei