Reise zum Mittelpunkt der Krise
Zu Gast beim EU-Parlament erhoffen sich Bürger Antworten auf ihre Fragen zum Euro
Brüssel – Die Stimmung ist am Tiefpunkt, wenige Meter vor dem Ziel. Der schwarze Reisebus der Besuchergruppe aus Thüringen ist im Kreisverkehr steckengeblieben, direkt vor dem EU-Parlament in Brüssel. Der Kreis ist zu klein zum Wenden, aber der Fahrer muss es versuchen. Die Aufpasser vor dem Parlament geben keine Ruhe. Die Thüringer haben die falsche Auffahrt genommen, und jetzt dürfen sie nicht mehr vorwärts. Nur noch zurück. Um den Bus herum stauen sich Limousinen der Politiker, bei den Reisenden staut sich Wut. „Das ist ja schlimmer als in der DDR“, entfährt es einem älteren Herrn.
Dabei sollte die Reise doch zur Beruhigung beitragen. Nicht nur die Märkte verlieren in der Schuldenkrise das Vertrauen in die EU, sondern vor allem die Bürger. Jeder zweite Deutsche wünscht sich inzwischen die D-Mark zurück. Während in Frankfurt und Berlin Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Macht der Banken zu demonstrieren, zieht es andere ins Zentrum der Union, nach Brüssel oder Straßburg – die einen aus Sorge, die anderen aus Neugier, oder auch einfach, weil es nichts kostet. Der Besucherdienst des EU-Parlaments zahlt jedem Abgeordneten für bis zu 110 Einladungen pro Jahr einen Reisezuschuss, um Bürger und Union zusammenzubringen. Die Nachfrage ist groß. Aber kaum ein Parlamentarier will in der Krise die Presse dabei haben, wenn er mit Parteimitgliedern, Frauengruppen oder Schülern aus der Heimat Tacheles redet.
Gabi Zimmer, Europaabgeordnete der Linken und früher Bundesvorsitzende der PDS, ist da offener. Ihre Reisegruppe hat es nach dem Drama im Kreisverkehr noch pünktlich ins Parlament geschafft, nun sitzen die Gäste in einer Art Klassenzimmer des Besucherdienstes, bereit für eine Lektion Europapolitik. Viele Rentner und Parteimitglieder sind mitgefahren, aus Erfurt oder Sonneberg, aber auch einige Schüler, die eher zufällig an die Linkspartei geraten sind.
Als ihre Zuhörer wissen wollen, wie sie zum Rettungsschirm steht und zu Griechenland, da spricht Gabi Zimmer erst von den Geburtsfehlern der Währungsunion, erinnert daran, wie ernst die Krise ist und mahnt, dass eine andere Politik nötig sei. Aber irgendwann platzt es aus ihr heraus – mit Vorwarnung, denn sie wählt deftige Worte, für die sie sich gleich vorab entschuldigt. Die Deutschen seien doch „auf dem Arsch der anderen durchs Feuer geritten“ und würden von der Union seit Jahren profitieren, poltert sie. Ihre Sorge: „Die Leute empfinden die Union als Bedrohung.“
Ist das so? Wollen die Menschen von Europa nichts mehr wissen? Volker Verdieck, ein freundlich lächelnder Rentner, sitzt mit seiner Frau Hannelore in der zweiten Reihe. Auf ihrem Schoß liegen die roten Jutebeutel, die sie geschenkt bekommen haben, vorne drauf das Konterfei von Rosa Luxemburg. Die Verdiecks aus Erfurt, beide 70, sind besorgt, dass die Schuldenkrise kein Ende nimmt, dass aus den Bürgschaften mit dem neuen Stabilitätsmechanismus Bares wird und das Geld immer weiter Richtung Süden fließt. Noch glauben sie, dass ihr Erspartes sicher ist, aber „gefeit ist da keiner“, sagt Herr Verdieck. Angst vor der EU habe er nicht. Vielmehr habe er völlig das Vertrauen verloren.
Nicht nur die Verdiecks beschleicht das Gefühl, dass die Politiker einfach zu wenig tun. Oder auch das Falsche. In Brüssel kennt man die Beschwerde, dass sich die EU lieber mit der Form von Gurken befasse als mit ernsthaften Problemen. Dabei ist die berüchtigte Gurkenkrümmungsnorm längst abgeschafft. Brüssel wird gerne zum Buhmann gemacht, gerade von den Mitgliedstaaten und Bundesländern. Eine Minderheit im Thüringer Reisebus grölt dann auch über die EU-Witze des Reiseführers („Experten in Brüssel? Leute, die keine Ahnung haben!“). Der Rest schaut betreten aus dem Fenster….
Den vollständigen Artikel finden Sie in der Printausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 17. Oktober 2011.