Verwirklichung der Ziele von Lissabon und der Ziele der Strategie EU 2020
Rede im Plenum des Europäischen Parlaments
Herr Präsident! Wir stehen inmitten der grundlegendsten Krise der Europäischen Union in ihrer Geschichte, aber die Entscheidungen zu den strategischen Ausrichtungen werden fast alle auf der Ebene der Regierungen getroffen. Das Europäische Parlament sitzt im Höchstfall am Katzentisch.
Die gesamte heutige Parlamentsdebatte kreist immer wieder um Einzelthemen, die sich anlehnen an die Strategie für Beschäftigung und Wachstum 2020, die fälschlicherweise den Eindruck erweckt, als ginge es hier um die Zukunft und um die Entwicklungsrichtung für die Europäische Union. Wir dürfen mündliche Anfragen zur politischen Relevanz der Strategie EU 2020 in der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise stellen, wir dürfen aber diese Strategie EU 2020 gerade nicht mit unseren Forderungen beeinflussen, sie verändern, Defizite füllen oder vielleicht sogar die Prioritäten ändern.
Wir sind in die strategischen Weichenstellungen nicht eingebunden. Stattdessen erleben wir an fast jedem einzelnen Punkt, den wir in den letzten Monaten hier in diesem Parlament behandelt haben, dass wir trotz oder vielleicht sogar wegen des Vertrags von Lissabon in den Machtkampf zwischen den Institutionen eingebunden sind, der meistens zulasten des Europäischen Parlaments ausgetragen wird. Sowohl die Strategie EU 2020 als auch zum Beispiel die integrierten beschäftigungspolitischen Leitlinien, zu denen vorhin auch die Vorsitzende des Beschäftigungsausschusses gesprochen hat, sehen uns als Parlament nur in der Rolle der zu Informierenden bzw. der Anzuhörenden.
Auch Die Summe der einzelnen Berichte, die hier heute vorgestellt wurden, ergibt noch längst keine Gesamtschau von Forderungen, von Positionen des Europäischen Parlaments in Bezug auf die europäische Strategie. Dabei hätten wir eine ganze Reihe von konkreten Veränderungen einzubringen.
Das Europäische Parlament hat in der letzten Wahlperiode konkrete Anforderungen an Rat und Mitgliedstaaten zum Kampf gegen Armut, zur Einführung sozialer Mindestsicherungssysteme, zum EU-weiten armutsfesten Mindestlohn gestellt. Nichts ist davon in die Strategie aufgenommen worden. Im Gegenteil: Zielstellungen wie der Kampf gegen Armut und die Senkung der Armutsrate um 25 % drohen sogar wieder aus dem vorliegenden Text der Strategie herauszufallen, weil sie nicht in das Geschick und in die Interessen der Mitgliedstaaten und der Regierungen passen.
Allein auch die vorliegende beschäftigungspolitische Bilanz der EU der letzten zehn Jahre hat deutlich gemacht, dass insbesondere die atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse auf 60 % gestiegen sind. Dieses rasante Anwachsen atypischer Beschäftigungsverhältnisse sollte doch aber gerade in der Strategie und auch in den Leitlinien dazu führen, dass wir uns wieder ein Leitbild stellen, das auf gesicherte und armutsfeste Beschäftigungsverhältnisse hin orientiert. Das ist doch eine grundlegende Forderung, mit der wir uns hier auseinandersetzen!
Solange aber seitens der Europäischen Union, seitens der Institutionen und ihrer konkreten Politik keine Signale hinsichtlich derer, die ausgegrenzt werden, in Armut leben oder keine Arbeit haben, und auch der Jugendlichen, die keine Zukunftsperspektiven haben, ausgesandt werden, solange werden wir diese auch nicht für eine gemeinsame Europäische Union als zukunftsfähiges Projekt gewinnen können. Das ist ein Demokratiedefizit, das durch die vorliegende Strategie EU 2020 nur bestärkt wird, anstatt dass wir es gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern bekämpfen.