Es geht: vernünftig fragen, gut antworten
Junge Leute wollen von gestandenen Politikern wissen, was aus Europa, aus dem Klima und aus dem Bildungswesen wird
Aachen. Die Phrasendreschmaschine blieb ausgeschaltet. Normalerweise springt sie per Knopfdruck an. Dann sprudeln sie heraus, die Wörter – aus berufenem und politischem Mund. Manchmal ist es nur ein sanftes Plätschern, manchmal ist es aber auch ein grobes Brausen. Und allzu oft winken die Leute ab, gerade die jungen. Sie wollen keine Wortblasen, kein Blabla. Sie wollen wissen, was Sache ist. Sie wollen ehrliche Antworten auf vernünftige Fragen. Die gab es gestern im Aachener Einhard-Gymnasium gleich reihenweise.
Die Europäische Union, ihre vitale Bedeutung für die Mitgliedsstaaten und ihre mögliche zukünftige Entwicklung waren Themen einer Podiumsdiskussion mit den Kandidaten für die Europawahl am 7. Juni: Martin Schulz (SPD), Elmar Brok (CDU), Reinhard Bütikofer (Grüne), Alexander Plahr (FDP) und Jürgen Klute (Die Linke). Dass Streitgespräche dieser Art überhaupt nicht einschläfernd wirken müssen, sondern ganz im Gegenteil sehr anregend sein können, war für die Schüler des elften und zwölften Jahrgangs eine von mehreren Erkenntnissen.
So erfuhren die Gymnasiasten unter anderem, dass Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, seinen durchaus stattlichen Kollegen Elmar Brok, CDU-Europaabgeordneter, für ein „Schwergewicht“ im EU-Parlament hält. Dass sich Brok eingestehen müsste, „in der Erziehung etwas falsch gemacht zu haben“, wenn eines seiner Kinder in die Linkspartei eintreten würde. Dass es Reinhard Bütikofer, Spitzenkandidat der Grünen für die Europawahl, „unendlich langweilig“ fände, wenn die FDP allein die Politik in Europa bestimmen könnte. Oder dass Alexander Plahr, FDP-Kandidat für das EU-Parlament, „Energiesparlampen in einigen, aber nicht in allen Räumen“ benutzt, um Klima und Umwelt zu schützen. Zuvor lautete der Arbeitsauftrag: Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz . . .
Die Europäische Union als Einheit zu betrachten, fällt nicht immer einfach. Die EU kann gar nicht mit einer Stimme sprechen, da es 27 Mitgliedsstaaten mit zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen gibt. Das betrifft unter anderem auch Fragen einer gemeinsamen Bildungspolitik, die die Schüler ganz besonders interessierte. Jürgen Klute, Kandidat der Partei Die Linke für die Europawahl, machte auf die voneinander abweichende Bildungspolitik innerhalb Deutschlands aufmerksam, um die Schwierigkeit eines gemeinsamen europäischen Bildungskurses zu veranschaulichen: „Für mich ist das eine Gespensterdiskussion. Wir haben 16 Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Systemen, und gleichzeitig sprechen wir über eine Angleichung auf EU-Ebene.“ Klute sprach sich für die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems aus, für eine bessere Durchlässigkeit und für Chancengleichheit. „Bildung muss für jeden bezahlbar bleiben.“
Die EU könne es sich nicht erlauben, auch nur auf ein Talent zu verzichten, gab Schulz zu bedenken und zog einen Vergleich heran: In Chinas Universitäten hätten 2006 rund 300 000 Ingenieure ihren Abschluss gemacht; daran müsse man sich messen lassen. Schulabschlüsse müssten EU-weit anerkannt werden. Strikt gegen einheitliche Vorgaben aus Brüssel sprach sich Alexander Plahr aus. Dies wäre seiner Ansicht nach „zu zentralistisch, zu bürokratisch“. Allerdings hält es der FDP-Politiker für wichtig, dass der länderübergreifende Wechsel von einem Bildungssystem der EU ins andere vereinfacht wird. „Jeder muss vernünftige Chancen in diesem System haben.“ Auch Elmar Brok hält eine europäische „Einheitsidentität“ in diesem Punkt für nicht sinnvoll. Aber: Bildung und Forschung voranzutreiben, sei zwingend erforderlich. „Nur so können wir im internationalen Wettbewerb bestehen und unseren Le bensstandard halten.
“ Ob das Ziel, den CO 2-Ausstoß bis 2020 um 20 Prozent realistisch ist? Schulz gab sich ganz grün: „Eigentlich müssten wir ihn noch mehr reduzieren, um den Klimawandel abbremsen zu können.“ Bütikofer wandte sich gegen die Ansicht, Klimaschutz könne nur auf Kosten der Wirtschaft funktionieren. „Es gibt keine Strategie, mit der man mehr Arbeitsplätze schaffen kann, als mit einer Strategie der Ökologisierung.“ Europa könne hier der Welt ein Vorbild sein.
Die Grenzen des europäischen Wachstums – ein heikles Thema. Uneins zeigten sich die Parteienvertreter darüber, ob die Türkei Teil der EU werden sollte. Bütikofer schloss dies langfristig nicht aus und verwies auf den europäischen Wertekanon, dem jedes Mitglied verpflichtet sei. Schulz sagte: „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Mitglieder aufnehmen.“ Vielmehr komme es darauf an, den Staatenbund durch ein einheitliches Vertragswerk weiterzuentwickeln. Dessen Verabschiedung ist bisher am Veto Irlands gescheitert.
Einen einheitlichen „Bundesstaat Europa“ hält Schulz für unwahrscheinlich: „Ich glaube nicht, dass die EU-Mitglieder bereit sind, ihre staatliche Souveränität aufzugeben. Und ein EU-Außenminister? Klute hegt starke Zweifel. Weil: Zwischen den Mitgliedsstaaten gebe es erhebliche Differenzen, gerade was das Verhältnis zu den USA und die Präsenz in Irak und Afghanistan angehe.
Sprechen durfte die Runde über alles, nur nicht über fünf Minuten. Auf die Einhaltung dieser Regel achteten die jugendlichen Diskussionsleiter peinlich genau. Im Namen seiner Kollegen, die davon aber bis dato nichts wussten, lud Martin Schulz die Schüler zu einem Gegenbesuch nach Brüssel ins Europäische Parlament ein. Dort können sie mit eigenen Augen sehen, wie große Politik gemacht wird.