Vorrang des Sozialen in Europa statt radikaler Marktorientierung

Vorbereitung des Europäischen Rates (29.-30. Oktober 2009) (Aussprache)

Herr Präsident, Frau Ratspräsidentin, Herr Kommissionspräsident! Seit einem Vierteljahr wird viel über Personalfragen spekuliert und über das mögliche Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, den meine Fraktion aus drei guten Gründen abgelehnt hat.
Wir wollen – holzschnittartig formuliert – Erstens den Vorrang des Sozialen in Europa statt radikale Marktorientierung, Zweitens Abrüstung statt Entwicklung militärischer Fähigkeiten und Drittens mehr direkte Demokratie statt ein Europa der Eliten.
Es sollte endlich um konkrete inhaltliche Fragen gehen. Während hier um Namen und Posten gestritten wird, sind immer mehr Menschen arbeitslos. Die Banken werden natürlich gerettet. Gleichzeitig fordert Kommissionspräsident Barroso den baldigen Ausstieg aus den Konjunkturprogrammen, gestern auf 2011 festgelegt, und den schnellen Abbau der Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten. Das bedeutet dann: Löhne und Renten werden gesenkt, öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit werden zurückgefahren, höhere Mehrwertsteuern werden folgen, Tarifverträge werden Mangelware. Ein aktuelles Beispiel dafür ist in der deutschen Gebäudereinigungsbranche, die seit drei Tagen streikt, zu studieren.
Das sind die Probleme, die die Menschen in Europa haben, und damit sollte sich der Rat beschäftigen. Stattdessen wird vor allem über Zusatzklauseln zum Lissabon-Vertrag nachgedacht, die den tschechischen Präsidenten zur Unterschrift bewegen sollen. Wenn das so einfach ist, wie es praktiziert wird, gut, dann, sehr geehrte Regierungschefinnen und Regierungschefs, denken Sie doch bitte intensiver über eine soziale Fortschrittsklausel im Vertrag von Lissabon nach. Das wäre wesentlich angemessener!
Zu Beginn der Legislaturperiode gab es eine Reihe von guten Vorschlägen für eine sozialere EU-Politik. Das war nicht allein die soziale Fortschrittsklausel. Es ging auch um ein neues Konjunkturprogramm für Europa, für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, es ging um höhere Investitionen und um nachhaltiges ökologisches Wachstum.
Ein Europäischer Beschäftigungspakt für mehr und bessere Arbeitsplätze, für Lohngleichheit, für die Stärkung von Arbeitnehmern und verbesserte Arbeitsbedingungen wurde gefordert. Es war von stärkerer Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten die Rede, die Nachhaltigkeit der Sozial- und Pensionssysteme sollte sichergestellt werden.
Noch kann ich weder in der Politik der Mitgliedstaaten noch in der Politik der Kommission irgendeine Strategie hin zu diesen Zielen erkennen. Natürlich muss der Rat nun über die Besetzung der neuen Kommission und über die möglichen Veränderungen nach dem Lissabon Vertrag beraten. Dabei müssen aber die angesprochenen Probleme und ihre Lösungen im Vordergrund stehen. Meine Fraktion wird jedenfalls ihr Votum über das Kommissionskollegium davon abhängig machen.

(Es gilt das gesprochene Wort.)