Von Rostock bis Helsinki – die Ostsee-Strategie der EU

Ein Gespräch mit Helmut Scholz

Seit der Osterweiterung der Europäischen Union ist die Ostsee quasi zu
einem »europäischen Binnenmeer« geworden.
Die EU hat nun eine »Ostsee-Strategie« entworfen. Worauf zielt diese
Strategie ab?

Tatsächlich sind die Ostsee-Anrainerstaaten – von denen acht der Europäischen
Union angehören – zu einer europäischen Großregion geworden. Das bedeutet, dass die hier zahlreichen Probleme wie Umweltverschmutzung, starker Schiffsverkehr, drastischer Rückgang der Fischbestände, Munitionsreste und Wracks auf dem Meeresgrund sowie die Krise der maritimen Industrie nur gemeinsam anzugehen sind.
Vor allem die Schiffsemissionen sind ein Problem: Sie belasten Böden und Gewässer, gefährden die Gesundheit von Mensch und Tier und schädigen Kulturgüter. In vielen Hafenstädten machen sie bereits 80 Prozent der Gesamtschadstoffbelastung aus. Dramatische wirtschaftliche und soziale
Auswirkungen hat im gesamten Ostseeraum die eingebrochene Nachfrage
nach neuen Schiffen. Allein in Deutschland wurden seit Beginn der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise vier Werften insolvent – was Kurzarbeit oder Entlassungen nicht nur bei den Schiffsbauern, sondern auch bei Zulieferern heißt. Zugleich stellt der geplante Bau und Ausbau der Energieversorgungssysteme durch die Ostsee eine große ökologische Herausforderung für die beteiligten Staaten dar. All diese Probleme sind nicht nationalstaatlich, sondern nur durch ein gemeinsames Herangehen zu meistern. Eine Ostsee-Strategie der EU ist daher überfällig.

Worin bestehen die Vorteile einer Ostsee-Strategie für die EU und für die Staaten der Region?
Es geht ja darum, die Ostsee-Strategie nicht als Projekt einiger weniger Staaten zu begreifen, sondern als Anliegen der gesamten Gemeinschaft. Warum sollte beispielsweise ein Unternehmen in Italien, das Waren nach Skandinavien liefert, kein Interesse an einem umweltgerechten und
gut funktionierenden Schiffsverkehr in der Ostsee haben? Und die geplante Ostsee-pipeline dient nicht nur der Energieversorgung im Ostsee-Raum, sondern der der gesamten EU. Ganz zu schweigen von den Umwelt- und Klimafragen. Daneben entspricht selbstverständlich auch der Abbau des existierenden wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen EU-»Alt«- und Neumitgliedern den Gemeinschaftszielen. Deshalb steht die Strategie auch von Beginn an allen EU-Staaten offen.

Umso erstaunlicher ist für mich, dass für eine Ostsee-Strategie bisher keine Mittel bereitgestellt wurden. Die Antwort auf die Frage, woher das Geld für ihre Realisierung kommen soll, blieben Rat und Kommission bisher schuldig. Werden hier künftig bereits für die Struktur- und Regionalfonds bereitgestellte Mittel nur neu verteilt oder gibt es reale Erweiterungen? Mit entsprechenden Mitteln könnten aber innovative Vorhaben im Bereich Ökologie, Energie und Verkehrslenkung ebenso forciert werden wie in der Beschäftigungspolitik.

Kann die geplante Ostsee-Strategie als Vorbild für andere transregionale Kooperationen in der EU dienen?Ähnliche Probleme wie im Ostsee-Raum gibt es beispielsweise im Donau-Becken, in der Schwarzmeer- und in der Mittelmeer-Region. Ob die Ostsee-Großregion tatsächlich zu einem Modell werden kann,setzt aber nicht nur die Lösung des Finanzierungsproblemsvoraus. Vielmehr muss der politische Wille bei allen Beteiligten dasein, dieses Vorhaben auch konsequent und umfassend umzusetzen. Russland ist der einzige Anrainerstaat der Ostsee, der kein EU-Mitglied ist. Wie sollte die EU mit dem Land mit Blick auf die Ostsee-Strategie umgehen?Russland wird von der EU und ihren Mitgliedern noch immer nicht als gleichberechtigter Partner angesehen. Im Gegenteil:Vor dem Hintergrund einer nicht selten aggressiven EU-Außenpolitik gegenüber Moskau, der faktischen Einkreisung Russlands durch die NATO und durch das Fehlen wirklicher Abrüstungsmaßnahmen des Westens könnte sich weiteres Konfliktpotenzial anhäufen. Die Ostsee-Strategie widersprichtsich selbst, wenn sie Russland als Zaungast behandelt, denn die Ziele derStrategie sind nur zu verwirklichen, wenn alle Beteiligten einbezogen werden – und zwar von Beginn an.

Dieser Artikel ist in der europaROT Ausgabe Dezember 2009 erschienen.
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