Das Stockholm-Programm, eine politische Chimäre
Das neue Fünfjahresprogramm für die Bereiche Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union heißt »Stockholm-Programm«. Dazu hat die Europäische Kommission einen Vorschlag vorgelegt. Überschriften wie »making life easier – a Europe of justice« und »protecting citizens – a Europe that protects« klingen viel freundlicher als das, was sie bezeichnen: polizeiliche und strafjustizielle Zusammenarbeit, Strategien der Inneren Sicherheit oder Asylpolitik.
Bei der Erläuterung der Vorteile eines »Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts« »im Dienste des Bürgers« geht die Kommission über äußerst bedenkliche Punkte hinweg:
Erstens: Den gesamten Vorschlag auf das Rechtskonzept des Bürgers – »promoting citizens’ rights – a Europe of rights« – abzustimmen, reduziert das BürgerInnenverständnis der Kommission auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten. Grund- und Menschenrechte müssen jedoch für alle Menschen gelten, ungeachtet ihrer Nationalität oder ihres »Migrationsstatus«.
Zweitens: Trotz der formalen Betonung eines Europas der Rechte erwähnt die Kommission keinerlei Steuerungsinstrumente zur Anwendung der Grund- und Menschenrechte durch die Mitgliedstaaten oder durch europäische Einrichtungen.
Drittens: Der unzureichenden Garantie von Grund- und Menschenrechten stehen unverhältnismäßig Pläne für die Sicherung der Außengrenzen und die Zusammenarbeit von Polizei und Strafjustiz gegenüber. Die verstärkte polizei- und geheimdienstliche Zusammenarbeit beinhaltet die Ausweitung
der gemeinsamen Nutzung der DNA- und Fingerabdrucksdatenbanken.
In der Bugwelle der »Terrorismusbekämpfung « wird an einem Überwachungsregime gefeilt, während von einer Ausweitung der Datenschutzrechte keine Spur ist! Der geplante Ausbau der Grenzschutzagentur FRO NTE X und deren Zugang zu hochsensiblen
personenbezogenen Daten (SIS II, Eurodac, VIS) bedeutet die Schaffung
militärischer Außengrenzen zur Flüchtlingsabwehr.
Dieser selektive Krieg gegen Migration trifft diejenigen, die aus Armut
und vor Verfolgung fliehen. Mit völlig überzogenen Maßnahmen werden Symptome bekämpft, anstatt Ursachen erforscht. Repressionen
ersetzen in der Europäischen Sicherheitsstrategie präventive Maßnahmen.
Viertens: Durch den Ausbau von Grenzkontrollen und die Errichtung bzw. den Ausbau von EU-weiten Datenbanken werden Einwanderungskontrollen mit der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung verknüpft. Flüchtlinge werden in einem Atemzug mit Schwerstkriminellen genannt und mit diesen gleichgesetzt. Damit wird Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung weiter Vorschub geleistet.
Fünftens: Die Mitteilung der Kommission sieht vor, einerseits irreguläre Migration militärisch zu bekämpfen und andererseits gut ausgebildete Fachkräfte zur Einwanderung zu ermutigen. Das ist eine menschenverachtende Einwanderungspolitik im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit! Die Öffnung von Einwanderungskanälen für qualifizierte Arbeitskräfte geht einher mit einer Einschränkung langfristiger Einwanderungsmöglichkeiten für unqualifizierte Arbeitskräfte. Dasist soziale Selektion von Menschen.
In Vorbereitung auf das Fünfjahresprogramm auf dem Europäischen Rat Mitte Dezember hat die schwedische EU-Ratspräsidentschaft einen ersten Entwurf des endgültigen Programms veröffentlicht. Dieser atmet nahezu unverändert den Geist der Kommission. Das Europäische Parlament arbeitet aktuell an einer Resolution zum Stockholm-Programm. Die Mitglieder der GUE/NGL werden sich in den federführenden Ausschüssen (LIBE/JURI/AFCO)* im Europäischen Parlament durch Änderungsanträge sowie durch öffentliche Kritik an den Plänen aktiv für Veränderungen am Programmentwurf einsetzen. Die einseitig auf Sicherheit orientierte Antwort auf soziale und ökonomische Konflikte ist eine Wahl und nicht im Mindesten ein notwendiges Übel.
Dieser Artikel ist in der europaROT Ausgabe Dezember 2009 erschienen.
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