Frühjahrsgipfel ignoriert wachsende Armut in Europa

Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlaments im Namen der Fraktion GUE/NGL am 12. März 2008

Meine Damen und Herren,

Wir werden heute Nachmittag den 50. Jahrestag des Europäischen Parlaments würdigen. Der Werdegang vom Beratergremium zur mitentscheidenden Institution ist aller Ehren wert.

Wäre es aber nicht eine gute Gelegenheit für den in dieser Woche stattfindenden Rat, dem Europäischen Parlament endlich das Initiativrecht in Aussicht zu stellen?

50 Jahre Europäisches Parlament sind aber gleichzeitig für mich und meine Fraktion GUE/NGL der Anlass um zu verdeutlichen, dass weder Rat noch Kommission auch in der folgenden Zeit ein folgsames, duldsames Parlament erwarten sollten.

Für Europaabgeordnete sollte es auch weiterhin zur Pflicht gehören, jenen in der Europäischen Union eine Stimme zu geben, die gerne überhört werden -jenen mehr als 70 Millionen Menschen in der EU, die in Armut leben bzw. gefährdet sind, in Armut zu stürzen. Darunter 19 Millionen Kinder!

Wenn der Europäische Rat – wie zu vernehmen ist – den strategischen Bericht der Europäischen Kommission zur erneuerten Lissabonstrategie für Wachstum und Beschäftigung begrüßt und sich dabei selbst ob seiner Erfolge lobt, sollte er mehr als nur eine Zeile Aufmerksamkeit jenen Bürgerinnen und Bürgern, jenen Kindern in der EU widmen, die am viel gepriesenen Erfolg der Lissabon-Strategie nicht partizipieren können.

Meine Damen und Herren,
Die Richtung und die Prioritäten der Strategie und damit der von ihr abgeleiteten Politik stimmen nicht.
Die von Ihnen eingeforderte Forcierung des Tempos dieses Kurses führt daher nur zu einer Zuspitzung der Widersprüche, nicht zur Aufhebung der Ungleichheiten!

Daher wächst die Schere zwischen dem, was aus sozialer, ökologischer und globaler Verantwortung zu tun wäre, und dem, was getan wird.

Und Herr Watson, Ihre Kritik an meiner Fraktion, wir würden mit unserer Unterstützung für die von Entlassung bedrohten Beschäftigten von Unilever die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen, weise ich zurück. Nicht unsere Kritik an Unilever, an Nokia und an anderen global agierenden Konzernen geht an der Wirklichkeit vorbei. Sondern Kommission und Rat weigern sich, sich der Wirklichkeit zu stellen und sich mit dieser globalen Aggressivität der Konzerne auseinander zu setzen und die betroffenen Beschäftigten zu schützen.

Ich kann nur dem Europäischen Netzwerk gegen Armut zustimmen, wenn es beklagt, dass der Kampf gegen Armut, soziale Ausgrenzung und wachsende soziale Spaltungen weiterhin nicht mit der notwendigen Klarheit und Konsequenz thematisiert und untersetzt werden.

Es hat am 10.3. vier Fragen an den Frühjahresgipfel gerichtet und ich meine, dass das Europäische Parlament sie sich aneignen sollte.

1. Wie soll die soziale Dimension der Lissabonstrategie konkret gestärkt werden?

2. Mit welchen konkreten Maßnahmen soll der angekündigte wirksame Beitrag zur Bekämpfung von Armut untersetzt werden?

3. Wie soll wirksam gegen working poverty vorgegangen werden? 18,9 Millionen der offiziell 78 Millionen Armen sind „in Arbeit“.

4. Wie wird erreicht, dass die wachsenden Energiepreise nicht die soziale Kohäsion und Integration gefährden?

Die vier Fragen sind elementar, soll Wirtschaftswachstum wirklich sozial und ökologisch nachhaltig werden.

Sinnvolle Schritte in diese Richtung können gegangen werden, würden der Europäische Rat und die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedsländern verbindliche Ziele, soziale, ökologische und kulturelle Mindeststandards festlegen:

a) für die Überwindung von Armut, insbesondere von Kinderarmut, von Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und struktureller Benachteiligung – insbesondere von Frauen,

b) Versorgung mit Gesundheits-, Kinderbetreuungs-, Bildungs- , Pflege- und Beratungsleistungen,

c) Reduzierung von klimaschädigenden Gasen, Schadstoffemissionen, Energieverbrauch, Flächenversiegelung, Lärmbelastung.