Rede auf dem 2. Landesparteitag DIE LINKE. Sachsen, Markneukirchen, 11. Oktober 2009

Liebe Genossinnen und Genossen,
zunächst herzlichen Dank dafür, dass ich heute zu Euch sprechen kann.
Ihr werdet auf diesem Parteitag wichtige Weichen stellen für das bevorstehende Wahljahr 2009, und ich bin sicher, Ihr werdet die richtigen Entscheidungen treffen!
Noch vor der Landtagswahl und noch vor der Bundestagswahl werden, wie Ihr wisst, die Europawahlen stattfinden. Und Ihr seid sicher ganz und gar nicht überrascht, wenn ich vor allem dazu etwas sage.
Inzwischen liegt der Entwurf unseres Europawahlprogramms vor. Zentral für mich ist, dass wir eine friedliche, demokratische und soziale Europäische Union wollen und dass DIE LINKE im Ringen darum klar als proeuropäische Partei agiert. Damit identifiziere ich mich voll und ganz, prägt dies doch mein Handeln als Abgeordnete.
Manch eine oder manch einer könnte nun meinen, dass dies doch Selbstverständlichkeiten seien. Sind sie aber offenbar nicht, wie die jüngsten Turbulenzen zeigten, die im Parteivorstand bei der Verabschiedung des Entwurfs ausbrachen. Noch gibt es in der Partei keine vollständige Klarheit zu einer Reihe – wie ich meine – von Grundsatzfragen.
Was meine ich? DIE LINKE versteht sich als Bürgerrechtspartei. Doch welche Haltung nimmt sie ein zur Grundrechtecharta der EU? Rechtsverbindlichkeit und damit individuelle Einklagbarkeit – Ja oder nein?
Im Entwurf heißt es, die EU setze auf Demokratieabbau. Nun ja. Ist etwa die Stärkung des Selbstverwaltungsrechts der Kommunen Ausdruck von Demokratieabbau? Ist die Stärkung der Parlamente, des Europäischen wie der nationalen Parlamente Demokratieabbau? Oder ist etwa die Einführung direkter Demokratie durch die Europäische Bürgerinitiative Demokratieabbau?
Und Genossinnen und Genossen, sind Forderungen, die auf ein Zurück zum Nationalstaat hinauslaufen, proeuropäisch? Ist es proeuropäisch, wenn etwa in einem Positionspapier einer AG der Partei ernsthaft gefordert wird, man müsse die EU völlig neu gründen, weil sie ihren Mitgliedstaaten die nationale Souveränität raube?
In der Tat: es gibt erheblichen Diskussionsbedarf zur Europapolitik.
Erstens darüber, ob wir die EU und damit die bislang vollzogene europäische Einigung nicht doch grundsätzlich ablehnen oder ob wir die EU verändern wollen, und zwar vor allem hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, was ich präferiere. Dahinter verbirgt sich ein Kardinalproblem – und zwar: Wie gehen wir damit um, dass die europäische Einigung einerseits zivilisatorischen Fortschritt darstellt, den auch wir Linke verteidigen müssen, und dass andererseits in der EU und ihren Mitgliedstaaten Turbokapitalismus mit Sozial-, Lohn- und Steuerdumping herrscht, dem wir uns entschieden widersetzen?
Zweitens: In der Kommune, im Land wie auch im Bundestag gilt für uns das eherne Prinzip, alles zu unterstützen, was – auf den Punkt gebracht – konkrete Fortschritte für die Menschen bringt. Danach handeln wir – sei es in der Opposition, sei es in Regierungsverantwortung wie gegenwärtig in Berlin oder möglicherweise bald durch Tolerierung in Hessen. Im Hinblick auf Europa aber, so mein Eindruck, hat sich hingegen die Tendenz verstärkt, undifferenziert auf die EU einzudreschen – ganz nach dem Motto: Europa ist weit weg und alles Böse kommt von Brüssel. Aber, Genossinnen und Genossen, sollte nicht auch für Europa gelten, ein Schritt nach vorn ist besser als Stillstand oder gar Rückschritt?
Verweisen möchte ich hier auf ein Interview mit Oskar Lafontaine zur aktuellen Finanzkrise in der“ taz“ vom 9. Oktober. Es ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie ich mir in diesem Kontext linke europapolitische Verantwortung vorstelle. Völlig richtig ist, dass ein globales Finanzsystem nicht mehr mit nationalen Alleingängen zu „reparieren“ ist. Übrigens ist das auch ein Grund, weshalb sich DIE LINKE für die Schaffung einer Politischen Union engagieren sollte, d. h. für eine EU, die sich vom imperialen Hegemoniestreben der USA emanzipiert.
Ich will mit einer dritten Fragestellung verdeutlichen, was mir – Stichwort differenziertes Herangehen – außerdem wichtig ist. Das Europaparlament unterscheidet sich in seiner Arbeit grundsätzlich vom Bundestag oder dem sächsischen Landtag darin, das es dort keine fest gefügten politischen Blöcke gibt, Regierungskoalition hier und Opposition da. Bei uns gibt es permanent wechselnde Mehrheiten, und zwar abhängig vom jeweiligen Sachthema. Als Linke opponieren wir hart, wo es geboten ist. Und häufig tolerieren und – wenn man so will – koalieren wir bei vielen Gesetzesvorlagen in Gänze oder bei Einzelfragen. Mitunter gelingt es uns sogar, Mehrheiten für unsere Auffassungen zu erreichen. Ein jüngstes Beispiel dafür ist der Bericht von Gabi Zimmer zur Förderung der sozialen Integration und Bekämpfung der Armut, der zum Beispiel verbindliche Zielvorgaben zur Senkung von Kinderarmut in der EU (Senkung um 50 % bis 2012) enthält.
Schließlich möchte ich auf ein viertes Problem aufmerksam machen, wo ich Klärungsbedarf sehe. Das betrifft die Frage, wie wir unsere politischen Ziele in Europa umsetzen wollen bzw. ihnen näher kommen. Dass wir dafür stets auch außerparlamentarischen Druck sowie ein bestimmtes politisches Klima benötigen bzw. organisieren müssen, steht außer Frage. Was ich aber meine, ist, dass wir es im supranationalen Gebilde EU mit 27 kapitalistischen Staaten in ihrer großen Vielfalt zu tun haben. EU bedeutet: 500 Millionen Menschen, das ist eine größere Bevölkerung als Russland und die USA zusammen, und EU bedeutet, dass wir es im Parlament mit ca. 170 Parteien aller Couleur zu tun haben. Was heißt das? Das heißt: es müssen immer, bei jeder Entscheidung, alle Mitgliedstaaten und eine Mehrheit aller Parteien über ihre Grenzen hinweg unter einen Hut, einen gemeinsamen europäischen Hut, gebracht werden. Damit stellt sich für uns aber immer wieder aufs Neue die Frage: nach welchen Maßstäben entscheiden wir eigentlich, diesen Hut mitzutragen? Ihr hier im Dreiländereck versteht sehr gut, was ich meine.
Liebe Genossinnen und Genossen,
für mich ist essentiell: niemals darf auch nur der Anschein entstehen, dass wir mit nationalistischen oder rechtsextremen Gegnern der europäischen Einigung, den Ganleys aus Irland, den Klaus’ aus Tschechien, den so genannten Freiheitlichen aus Österreich, den französischen Le Pens oder den konservativen britischen Euroskeptikern in einem Boot sitzen oder dort landen. An dieser Stelle, Genossinnen und Genossen, darf es kein Manövrieren und schon gar keinen Tabubruch geben! Ich muss das hier bei Euch sicher nicht vertiefen. Aber, auch das, ist eine Frage, über die wir in der Partei reden müssten.
Abschließend noch einige Bemerkungen zur Europäischen Bürgerinitiative. Das ist eine ganz aktuelle Frage, zu der sich unsere Partei umgehend positionieren muss. Im Entwurf des Wahlprogramms heißt es, dass wir in Europa Volksentscheide mit bindender Wirkung wollen. Die Europäische Bürgerinitiative ist das gewiss noch nicht, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Mit dieser Neuerung erhalten die Bürgerinnen und Bürger selbst erstmals die Möglichkeit, Europa unmittelbar mitzugestalten; sie sollen – ebenso wie das Parlament und der Rat – das Recht erhalten, konkrete Vorschläge für europäische Gesetze zu machen. Die Bürgerinitiative ist ein Türöffner für direkte Demokratie in der EU, hierzulande – auf Bundesebene – sind wir davon noch meilenweit entfernt. Im Europaparlament geht es gerade jetzt ganz aktuell darum, diese Tür so weit wie irgend möglich aufzustoßen, d. h., das für die Bürgerinitiative erforderliche europäische Gesetz (Verordnung) so fortschrittlich wie möglich auszugestalten. Ich wurde damit beauftragt, Vorschläge für dieses Gesetz (Verordnung) auszuarbeiten, zu Beginn des nächsten Jahres wird im Plenum darüber abgestimmt. Dieses europäische Demokratieprojekt ist eine reizvolle persönliche und politische Herausforderung, und da brauche ich auch Eure Unterstützung. Nutzt bitte meine Webseite im Internet, wo ihr euch aktuell informieren könnt und bombardiert mich mit Ideen und Vorschlägen.
Liebe Genossinnen und Genossen,
lasst uns in den kommenden Monaten eine ergebnisorientierte und motivierende Diskussion zum vorliegenden Entwurf des Europawahlprogramms führen. Wünschen wir uns gemeinsam die erforderliche Kraft und die notwendige Solidarität, um den bevorstehenden Wahlmarathon in Sachsen, im Bund und in Europa mit Top-Ergebnissen abzuschließen!