…dringend an der Zeit, Europa zu ändern!
Die Antwort von Francis Wurtz, Präsident der GUE/NGL, auf die Rede des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy
Verehrter Herr Präsident,
ich werde mich in meiner Rede auf die in meinen Augen unbestritten gute und die offensichtlich schwache Seite Ihres Programms für die Ratspräsidentschaft beziehen.
Gut ist, dass Sie nicht in das Horn derer stoßen, die ein blühendes Europa proklamieren und meinen, die EU müsse so weitermachen wie bisher, während mehr und mehr Europäerinnen und Europäer fordern, dass sich die Dinge ändern. Sehr gut.
Und weiter? Dort liegt das Problem. Welche Schlussfolgerungen, Herr Präsident, ziehen Sie aus der so offensichtlichen Legitimitätskrise unter der die EU und vor allem ihr Wirtschaftsmodell heute leiden?
Sie behaupten, das Unbehagen der Europäer gegenüber der Union zu verstehen und zu respektieren. Gleichzeitig setzen Sie das irische Volk unter Druck, seine Entscheidung zurück zu ziehen. Dabei haben die Bürgerinnen und Bürger Irlands doch nur – nach den Franzosen und den Niederländern – laut und deutlich das verkündet, was Millionen andere Europäer auf dem Herzen haben!
Zu Recht kritisieren Sie die Europäische Zentralbank, die im Elfenbeinturm über den Euro wacht. Aber Sie haben noch nie vorgeschlagen, ihr Statut zu verändern, das ihr derartig viel Macht verleiht und ihr diesen Status sogar vorschreibt!
Sie behaupten, beim Thema Migration „den Werten, die auch die unseren sind zu dienen“, aber Sie haben die „Richtlinie der Schande“ befürwortet, welche vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, von allen Menschenrechtsorganisationen sowie von europäischen Kirchen kritisiert und abgelehnt wurde, eben genau weil sie grundsätzliche Werte verletzt.
Sie klammern die Soziale Frage aus, die in Ihren Augen im alleinigen Verantwortungsbereich der Staaten verbleiben soll. Wieso aber verlieren Sie kein Wort über den Europäischen Gerichtshof, der ein Urteil nach dem anderen fällt und die Sozialstaaten der Union zu Konkurrenten macht – im Übrigen stützt sich der EuGH dabei auf die Artikel 43 und 49 des Lissabon-Vertrags.
Sie sagen, sie mochten das Bild vom „polnischen Klempner“ nicht. Ich auch nicht! Es handelt sich dabei um eine von der populistischen Rechten lancierte Formel, die über die Medien von Herrn Bolkestein weiter verbreitet wurde. Ich sage „Willkommen!“, zu Arbeitern aus allen Ländern, zu gleichen Rechten in allen Bereichen – das wiederum aber wird vom bisherigen Europarecht verhindert.
Ich erinnere daran dass in Niedersachsen, gemäß der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs, ein Arbeiter aus einem anderen Mitgliedstaat für die gleiche Arbeit auf derselben Baustelle für die Hälfte des deutschen Baumindestlohns beschäftigt werden darf.
Lassen Sie mich Ihnen sagen, was ein Mann wie John Monks (Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes), dem jeglicher Populismus fremd ist von solchen Urteilen hält: Er beurteilt diese Entscheidungen als „höchst problematisch“, da sie „die Vorrangstellung der wirtschaftlichen Freiheiten gegenüber den Grundrechten und dem Respekt für das Arbeitsrecht bestätigen“. Wie lautet Ihre Antwort hierauf?
Sie bekräftigen, ein „Europa, das sich schützt“ schaffen zu wollen. Aber höre ich Sie bekräftigen, etwas gegen die strukturellen Probleme unternehmen zu wollen, welche die Europäerinnen und Europäer schleichend in die soziale Not treiben?
Die Pflicht, Betriebe öffentlicher Daseinsvorsorge der Konkurrenz zu öffnen? Der Druck vom Stabilitätspakt auf die Löhne und die Sozialausgaben? Die Vielzahl von Verordnungen, vorbereitet von der Europäischen Kommission und angenommen vom Rat, die Sie mit Feuereifer in Ihrem eigenen Land umsetzen?
Nehmen wir zum Beispiel „Richtlinie“ Nr.2: Reform der Rentensysteme, der sozialen Sicherheit und der Gesundheitssysteme. „Richtlinie“ Nr.5: Flexibilität der Arbeitsmärkte. „Richtlinie“ Nr.13: Beseitigung von ordnungsmäßigen Vorschriften, Handelshemmnissen und anderen, die unberechtigt die Konkurrenz behindern – um nur einige zu nennen.
Der Sinneswandel Frankreichs und Italiens gestattet es dem Rat sogar, über dessen geplante 65-Stunden-Woche hinaus zu gehen! Das kürt Charles Dickens zum neuen „Vater Europas“!
Ein letztes Wort, Herr Präsident: Am vergangenen Wochenende haben Sie Ihre Rede vor Ihren Gästen – den Präsidenten von Kommission und Europaparlament – sowie 2000 leitenden Angestellten der französischen Rechten mit einer Bemerkung geschlossen, die von der gesamten Gewerkschaftsbewegung als eine – im Übrigen sehr leichtsinnige – Provokation aufgefasst wurde. Sie behaupteten, „die Franzosen würden von nun an nicht einmal mehr bemerken, wenn es einen Streik“ gäbe.
Am Tag nach diesem hochmütigen Akt erklärte Ihr Bildungsminister, dies sei geschehen, „um unsere europäischen Partner in Anwesenheit zwei ihrer höchsten Vertreter zu beruhigen und aufzumuntern.“ Nun, wenn es Beleidigungen der Gewerkschaften braucht, um die europäischen Führer zu beruhigen, dann ist es eindeutig dringend an der Zeit, Europa zu ändern! Und zwar gründlich.