Offener Brief an den Chefredakteur der Tageszeitung „junge Welt“
Sehr geehrter Herr Schölzel,
mit Empörung habe ich in der Ausgabe vom 9. Juli 2008 den Artikel von Harald Neuber „Strategischer Rückzieher des Tages“ zur Kenntnis genommen. Der Beitrag ist schlecht recherchiert, er enthält zahlreiche der Wahrheit nicht entsprechende Aussagen und diffamiert unseren Kollegen André Brie. Daher halte ich folgende Klarstellung für notwendig:
– offener Brief – An den
Chefredakteur der
Tageszeitung junge Welt
Arnold Schölzel
Torstraße 6
10119 Berlin
Tel. 030 / 53 63 55-0
Fax 030 / 53 63 55-44
redaktion@jungewelt.de
Brüssel, 16.07.2008
Sehr geehrter Herr Schölzel,
mit Empörung habe ich in der Ausgabe vom 9. Juli 2008 den Artikel von Harald Neuber „Strategischer Rückzieher des Tages“ zur Kenntnis genommen. Der Beitrag ist schlecht recherchiert, er enthält zahlreiche der Wahrheit nicht entsprechende Aussagen und diffamiert unseren Kollegen André Brie. Daher halte ich folgende Klarstellung für notwendig:
1. Im Ergebnis der Entscheidung des Auswärtigen Ausschusses wurde Dr. André Brie zum Berichterstatter des Europäischen Parlaments zum Thema „Stabilisierung Afghanistans: Herausforderungen für die EU und die internationale Gemeinschaft“ benannt. Seine Aufgabe bestand darin, eine Stellungnahme des Parlaments, das sich bekanntermaßen aus Vertretern unterschiedlichster politischer Parteien zusammensetzt, vorzubereiten. Ein solcher Bericht unterscheidet sich naturgemäß von der Stellungnahme einer politischen Partei.
2. Länderberichte des Europäischen Parlaments verfolgen das Ziel, Herausforderungen für die Politik der Europäischen Union zu identifizieren und Vorschläge zu ihrer Bewältigung zu machen. Es gibt bekanntlich keine Militärmission der EU in Afghanistan. Die EU ist mit humanitärer und Wiederaufbau-Hilfe sowie einer Polizeimission in Afghanistan aktiv. Mit den Ergebnissen und Problemen dieser Aktivitäten beschäftigt sich der Bericht von André Brie. Das Parlament würdigt die Erfolge, die im Ergebnis der Bemühungen der Afghaninnen und Afghanen in der vergangenen Jahren erreicht wurden, und benennt die Defizite der afghanischen und internationalen Politik. Es fordert eine neue Strategie der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung, in deren Mittelpunkt der zivile gesellschaftliche Wiederaufbau steht.
Die Beiträge ihrer Zeitung zum Afghanistan-Bericht des Europäischen Parlaments negieren diese Tatsachen und malen damit ein falsches Bild von der Arbeit des Berichterstatters.
3. Im Ergebnis der Abstimmungen im Parlament enthält der Bericht auch einige Paragraphen zur Rolle des ausländischen Militärs, die den Positionen der Linkspartei widersprechen. Harald Neuber behauptet in seinem Artikel, dass André Brie diese Positionen unterstützt. Er verschweigt, dass André Brie im Namen unserer Fraktion genau zu diesen Artikeln Änderungsanträge eingebracht hat. In diesen Anträgen – die Paragraphen des Berichtsentwurfs von André Brie aufnehmen – wird betont,
„dass die internationale Gemeinschaft unbedingt untersuchen muss, welche strategischen und konzeptionellen Fehleinschätzungen zur jetzigen Lage in Afghanistan beigetragen haben, was eine ehrliche Bewertung der aktuellen Militärstrategie und der Strategie für den zivilen Wiederaufbau einschließt;
…, dass ein deutlicher Strategiewechsel erfolgen muss, weil Frieden, Sicherheit und Entwicklung nur erreichbar sind, wenn die Spirale der Gewalt unterbrochen wird, wenn an die Stelle der bislang im Vordergrund stehenden militärischen Lösung verstärkte Anstrengungen auf dem Gebiet des zivilen Wiederaufbaus treten und wenn im Ergebnis dessen die afghanische Bevölkerung wieder Vertrauen fasst.“
In einem weiteren Änderungsantrag fordert André Brie im Namen der Fraktion „das sofortige Ende der Militäroperationen und den Rückzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan“.
Die Behauptung Ihres Redakteurs Harald Neuber, dass der Koordinator unser Fraktion für Außenpolitik sich für die „Besatzung“ ausgesprochen habe und die friedenspolitischen Grundsätze der Linken angreife, ist nicht nur eine Verleumdung André Bries, sondern gleichzeitig ein Angriff auf unsere Fraktion. Eine solche Verfälschung der Wahrheit durch Ihren Redakteur kann nicht unkorrigiert stehen bleiben.
4. Nicht „der Druck aus den eigenen Reihen“ wie von Harald Neuber kolportiert, sondern eine konsequente Haltung hat zum Entschluss von André Brie geführt, seinen Namen vom Bericht zurückzuziehen. Die Fraktion wurde bereits in der Sekretariatssitzung zur Vorbereitung des Plenums vom 27.Juni, zwei Tage nach der Abstimmung im Auswärtigen Ausschuss, über diese Absicht informiert.
Im Protokoll der EP-Plenarsitzung vom 8. Juli 2008 hätte Harald Neuber André Brie’s Begründung für seinen Rückzug vom Bericht nachlesen können: „Es ist mir nicht gelungen, eine Mehrheit davon zu überzeugen, dass die Probleme Afghanistans nicht militärisch gelöst werden können. Wenn nun die Parlamentsmehrheit sogar eine Verstärkung der Truppen fordert und nationale Vorbehalte in den Mitgliedstaaten missachtet werden sollen, werden das eigentliche Anliegen des Berichts und mein persönliches konterkariert. Dass dabei auch der Mehrheitswillen in allen europäischen Bevölkerungen ignoriert werden soll, ist unakzeptabel für Afghanistan – das zeigen die Ereignisse der letzten Tage – und ist die falsche Politik.“
Harald Neuber hat mit seinem Artikel vom 9. Juli 2008 seine journalistische Sorgfaltspflicht und das laut Pressekodex oberste Gebot der Presse, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu unterrichten, grob verletzt. Wir fordern Sie auf, die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
Ich bedaure sehr, dass dies nicht das erste Mal ist, dass Ihre Zeitung unkorrekte, mangelhaft recherchierte oder wissentlich falsche Beiträge über die Arbeit unserer Fraktion und ihrer Mitglieder veröffentlicht. Es liegt in Ihrer Verantwortung, dass dies künftig nicht mehr vorkommt.
Mit freundlichen Grüßen
Gabi Zimmer
Mitglied des Europäischen Parlaments und Sprecherin der Delegation DIE LINKE. im EP