So sozial ist die EU-Verfassung
Leserbrief in Welt am Sonntag vom 22.4.2007
Nicht nur der Arzt aus Kiel, der aus Luxemburg höchstrichterlich recht bekam, dass Bereitschaftsdienst Arbeitszeit ist, dürfte über die Behauptung des Bundestagsabgeordneten Diether Dehm schockiert sein, der Europäische Gerichtshof sei „einzig und allein auf die neoliberale Auslöschung des Sozialstaats in Europa“ vereidigt. Nicht anders ergeht es einem, wenn man liest, was der europapolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag zu Sozialstaatlichkeit und Eigentum in der EU-Verfassung verkündet.
zu: Sozialstaat und Gewaltenteilung; Welt am Sonntag vom 8.4.2007
Nicht nur der Arzt aus Kiel, der aus Luxemburg höchstrichterlich recht bekam, dass Bereitschaftsdienst Arbeitszeit ist, dürfte über die Behauptung des Bundestagsabgeordneten Diether Dehm schockiert sein, der Europäische Gerichtshof sei „einzig und allein auf die neoliberale Auslöschung des Sozialstaats in Europa“ vereidigt. Nicht anders ergeht es einem, wenn man liest, was der europapolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag zu Sozialstaatlichkeit und Eigentum in der EU-Verfassung verkündet.
Artikel I-3 verpflichtet die EU auf den Grundsatz einer „sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“. Weiter heißt es: „Die Union bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Diese Verfassungssubstanz soll angeblich „asozial“ sein. Deshalb fordert Dehm die Übernahme des Sozialstaatsprinzips aus dem Grundgesetz (GG) in die EU-Verfassung. Im GG heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Vorgaben, wie dieser Anspruch zu verwirklichen ist und wann dagegen verstoßen wird, enthält es nicht – nur das Wort „sozial“. Das ist nicht wenig – es ist aber auch schon alles. Nein, das GG ist wahrlich nicht der europäischen Weisheit letzter Schluss. Warum soll es besser sein, die sozialen Verfassungsziele ausgerechnet durch die GG-Formulierung zu ersetzen? Auch in Frankreich und den Niederlanden dürfte der Vorschlag kaum auf Gegenliebe stoßen.
Darüber hinaus irrt Dehm, wenn er der EU-Verfassung vorwirft, sie binde das Eigentum nicht ans Gemeinwohl. Auch hier verkennt er die Bedeutung der sozialen Ziele von Artikel I-3 und die Reichweite des Sozialauftrags in Artikel III-117. Durch diese Querschnittsklausel wird die Union verpflichtet, bei jeder Maßnahme – also auch dann, wenn sie den Eigentumsgebrauch regelt – soziale Gemeinwohlbelange zu beachten.
Fast schon dreist ist Dehms Unterstellung, die EU-Verfassung lasse Enteignungen nicht zu. In Artikel II-77 ist diese Möglichkeit ausdrücklich verankert, ebenso wie die Möglichkeit von Beschränkungen des Gebrauchs des Eigentums zum Wohle der Allgemeinheit.
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP, stellv. Vorsitzende der linken Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament; ehemaliges Mitglied des Europäischen Verfassungskonvents
Der Leserbrief wurde in Welt am Sonntag vom 22.4.2007 veröffentlicht