Die „Bombe“, der Vertrag und die EU

Verantwortung für den Frieden und die Aufgaben der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Von Tag zu Tag wird die Welt unsicherer – und nichts geschieht, um dem atomaren Wahnsinn wirksam zu begegnen. Es droht die atomare Anarchie, und die nuklearisierte Welt läuft Gefahr, sich früher oder später selbst zu vernichten. Genau diese Einsicht der beiden Supermächte USA und Sowjetunion war es, die 1968 den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), auch Atomwaffensperrvertrag genannt, mit der Maßgabe ins Leben rief, die Verbreitung nuklearer Waffen und Technologien zu verhindern. Einvernehmen bestand darüber, dass Staaten ohne Atomwaffen nicht von denen bedroht werden dürfen, die über diese Waffen gebieten. Aber davon ist fast nichts mehr geblieben.

Atomare Hemmschwelle sinkt

Traurige Auferstehung feiert stattdessen das Credo von Charles de Gaulle: „Alles entwickelt sich vom Nuklearen!“ Statt am NVV-Ziel einer „nuklearwaffenfreien Welt“ fetzuhalten, ist die Renuklearisierung der Weltpolitik in vollem Gange. Atomwaffen werden nicht mehr – wie zu Zeiten des Kalten Krieges – als letztes Mittel zur Abschreckung gesehen, sondern – wie die USA 1945 in Hiroshima und Nagasaki – wieder als Waffen zur Kriegsführung und Machtprojektion. Um die Androhung ihres Einsatzes glaubhafter zu machen, werden kleinere Nuklearwaffen („Mini-Nukes“) sowie Konzepte für präventive „Mini-Nuklearkriege“ entwickelt. Erwogen wird der „flexible“ Einsatz von Atomwaffen gegen so genannte Terrorstaaten, gegen Länder wie Iran, Nordkorea und Syrien. Gleichzeitig dürfen Pakistan, Indien und Israel das Nichtverbreitungsregime unbehelligt ignorieren, und sie können ihre zivilen und militärischen Nuklearprogramme weitgehend außerhalb internationaler Kontrolle betreiben.

Alles das trägt dazu bei, dass das globale Nichtverbreitungsregime so löcherig wird wie ein Schweizer Käse und dass die Schwelle für den Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen sinkt. Sie haben, so das Friedensforschungsinstitut Sipri, „als politische Währung nicht an Wert verloren, im Gegenteil“. Und das, obwohl der Internationale Haager Gerichtshof in seinem Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 eindeutig feststellte, es sei rechtswidrig, mit Atomwaffen zu drohen oder dieselben gar einzusetzen. Daraus ergebe sich die völkerrechtsverbindliche Pflicht, weltweit alle nuklearen Bestände abzurüsten. Tatsache ist jedoch, dass die nuklearen Risiken wachsen, wie Mohamed El-Bahradei, Generalsekretär der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), 2005 auf der Konferenz zur Überprüfung des NVV betonte. Einem Hilferuf gleich warnte der kürzlich aus dem Amt geschiedene UN-Generalsekretär Kofi Annan vor einer „sturzflutartigen Verbreitung“ von Atomwaffen, wenn nicht bald neue Maßnahmen gegen ihre Verbreitung ergriffen würden. Doch damit ist es schlechter bestellt denn je.

Dammbrüche am Nichtverbreitungsvertrag

Zweifelos steht die wichtigste rüstungskontrollpolitische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts auf dem Spiel, denn im vergangenen Jahr brachen fast alle Dämme des Nichtverbreitungsvertrags, der 1995 auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde. Hauptverantwortlich dafür ist die Doppelzüngigkeit der Nuklearpolitik der USA, aber auch der anderen vier im NVV offiziell anerkannten und damit legalen Atommächte Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Während die fünf Atommonopolisten als Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat je nach Interessenlage von anderen Staaten die Einhaltung des Sperrvertrags verlangen (oder auch nicht) und gegebenfalls mit drakonischen Sanktionen drohen, beanspruchen sie für sich selbst Nuklearwaffen auf Dauer, modernisieren sie ungestört und verletzen damit ihre verbindlich eingegangene Verpflichtung zur durchgreifenden atomaren Abrüstung. Von daher ist verständlich, dass sich Nichtatomwaffenstaaten von den Nuklearmächten hintergangen und betrogen fühlen.

Tödliche Gefahr droht dem Nichverbreitungsregime durch den von der Bush-Administration mit 100 Milliarden Dollar geplanten Einstieg in die Herstellung einer ganzen Generation neuer Atomwaffen und modernster Produktionsanlagen. Sie sollen alle nuklearen „Erblast-Waffen“ aus der Zeit des Kalten Kriges ablösen. Wenn die mächtigste Nuklearmacht der Welt ein derart gigantisches Programm auflegen kann, ohne dafür von der internationalen Staatengemeinschaft zur Rechenschaft gezogen zu werden, dann stellt sich die Frage, wie andere Länder daran gehindert werden können, ebenfalls den Irrweg des atomaren Abenteuers zu beschreiten.

Im Dezember 2006 trat das Nuklearabkommen USA-Indien in Kraft. Es sieht die Lieferung US-amerikanischer Nukleartechnologie und Uran vor. Damit schufen die USA einen gefährlichen Präzedenzfall: Indien wurde Profiteur des NVV, der alle Vorteile genießt, und blieb gleichzeitig Außenseiter des Vertrags, den seine Regeln nicht binden. Mit diesem offiziellen Deal wurde dem Atomwaffensperrvertrag ein schwerer Schlag versetzt. Durchbrochen wurde das bislang gültige Prinzip, dass Staaten, die sich dem NVV verweigern, auf keinen Fall nukleare Unterstützung bekommen dürfen, auch keine zivile, beispielsweise für Atomkraftwerke, die in Indien errichtet werden sollen. Aber das schert die USA nicht im Geringsten. Sie wollen den indischen Subkontinent als Gegengewicht zum aufstrebenden China gewinnen, weil sie damit rechnen, dass das Weltmachtspiel des 21. Jahrhunderts zwischen den USA und China ausgefochten wird. Zugleich verspricht sich die US-amerikanische Nuklearindustrie vom Einstieg ins indische Atomprogramm Super-Gewinne.

Beleg dafür, dass der Nichtverbreitungsvertrag vor allem durch das unilaterale Agieren der Bush-Administration immer brüchiger wird, ist die nukleare Selbstermächtigung des nordkoreanischen Regimes im Oktober vergangenen Jahres. 2003 verließ die KDVR den NVV und begründete dies vertragsgemäß damit, ihre „höchsten Interessen“ seien gefährdet. Zuvor, im Jahre 2002, hatte US-Präsident Bush die 1994 gegenüber Nordkorea von der Clinton-Regierung ausgesprochene Sicherheitsgarantie wieder aufgekündigt. Nordkorea wurde Teil der „Achse des Bösen“ und vom damaligen NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark zum Angriffsziel erklärt. Schließlich erteilten die USA Kim Jong-Il mit ihrem Einmarsch in den Irak die finale Lektion über Sinn und Zweck von Atomwaffen: Hätte Saddam Hussein die „Bombe“ besessen – die Aggression wäre nicht erfolgt!

„Nukleare“ Kettenreaktionen

Das Wehgeschrei über den nordkoreanischen Atomtest war noch nicht verklungen, und schon erfolgte in Japan ein schwer wiegender Tabubruch. Im Land, das den atomaren Massenmord erlitt, war die strikte Ablehnung einer Nuklearbewaffnung mehr als 60 Jahre unerschütterlicher Konsens der Politik. Jetzt wird er vom konservativen Flügel innerhalb der Regierungspartei LDP infrage gestellt, indem eine Debatte über eine japanische „Nuklearoption“ losgetreten wurde. Wenn Nachbarn Nuklearwaffen haben, könne man nicht umhin, die Frage nach eigenen Atomwaffen in Erwägung zu ziehen, so Außenminister Taro Aso. Das sind bedrohliche Signale, gehört Japan doch zu den wenigen Ländern, die über alle technischen und finanziellen Voraussetzungen verfügen, um rasch ein atomares Rüstungsprogramm aufzulegen. Es besitzt auch das notwendige Plutonium.

Aber für eine nukleare Aufrüstung Japans gibt es keine Mehrheit – weder in der Bevölkerung, noch in der Politik. Japan soll atomwaffenfrei bleiben. Allerdings wird die aus dem Atomtest Pyöngyangs abgeleitete Bedrohung instrumentalisiert, um die konventionelle Aufrüstung unterhalb der atomaren Schwelle deutlich zu forcieren. Dies kann einen Rüstungswettlauf in Ostasien auslösen. Auch eine Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung soll durchgesetzt werden. Mit dem Ende 2006 erlassenen Militärgesetz wurden die „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ bereits in eine offizielle Armee umgewandelt, die künftig ohne Sonderbewilligung des Parlaments bewaffnete Friedens- und Hilfsmissionen im Ausland durchführen kann. Aus dem „Amt für Selbstverteidigung“ wurde ein Verteidigungsministerium.

Ministerpräsident Shinzo Abe erklärte, vorrangiges Ziel sei, die atomare Bewaffnung Nordkoreas „mit allen Mitteln“ zu verhindern. Was darunter konkret zu verstehen ist, bleibt unklar. Auf jeden Fall weist die an die NATO gerichtete Bitte, sich der Nichtverbreitung von Atomwaffen anzunehmen, in die falsche Richtung. Für die Zukunft des NVV in Ostasien nimmt Japan eine Schlüsselstellung ein. Vom Fortgang der japanischen Nukleardebatte hängt viel ab, wie sich Südkorea und Taiwan künftig positionieren werden.

Ein Dauerbrenner der internationalen Politik sind die Atomambitionen des Iran, seien sie nun unterstellt oder eher real, denn auch die iranische Führung hat den Irakkrieg der USA als Lektion verstanden. Sie führten Ende 2006 zu Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen die Kernindustrie des Landes, obwohl der Iran mehrfach beteuerte, den Nichtverbreitungsvertrag einzuhalten. Neu ist, dass nunmehr vor allem in Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder der Türkei, die alle den USA relativ nahestehen, Rufe nach der „Bombe“ mit der Begründung lauter werden, Iran werde Atommacht und strebe die Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten an.

Auffällig ist zudem, dass diese Staaten wie auch Marokko, Algerien, Tunesien oder die Vereinigten Arabischen Emirate im vergangenen Jahr die IAEO um Unterstützung beim Aufbau ziviler Atomprogramme baten. Auch die Türkei will acht Reaktoren bauen – nur für zivile Zwecke, wie es heißt. Dadurch würden diese Staaten aber zugleich Erfahrungen im Umgang mit Nukleartechnologie sammeln, die für spätere Atomprogramme unverzichtbar sind. Der Sicherheitsexperte Ottfried Nassauer verweist in diesem Kontext auf ein Problem, und zwar darauf, ob die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen gesichert und gleichzeitig die friedliche Atomenergie unterstützt werden können. Bekanntlich entsteht Plutonium erst, wenn die Atomenergie genutzt wird, egal ob zivil oder militärisch.

Umorientierung der europäischen Sicherheitspolitik

Auf diese neuen sicherheitspolitischen Herausforderunghen hat die Europäische Union bislang keine adäquate Antwort. Aber nicht nur das: Abrüstung als politisches Ziel wird in der Europäischen Verfassung außen vor gelassen, während die EU-Mitgliedstaaten zur „Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten“ verpflichtet werden. Außerdem wird der internationalen militärischen Konfliklösung Vorschub geleistet. Auch in dem erst im Dezember 2003 verabschiedeten EU-Strategiekonzept „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ sind Themen wie atomare Abrüstung und effiziente Rüstungskontrolle ausgeblendet bzw. werden – ähnlich wie in den USA – auf die Bekämfung terroristischer Bedrohungen mit atomaren Hintergrund und auf Abrüstungsmaßnahmen in zerfallenden Drittstaaten beschränkt. Das ist nicht hinnehmbar. Die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen integrale Bestandteile der europäischen Sicherheitspolitik werden. Nur sie und nicht die Entwicklung der EU hin zu einer Militärmacht schaffen eine friedliche Weltordnung und ein sicheres Europa.

Der doppelzüngige Umgang der Bush-Regierung mit dem Nichtverbreitungsregime ist inakzeptabel und muss daher entschieden bekämpft werden. Der Atomwaffensperrvertrag hat – wenn auch unvollkommen – der internationalen Stabilität und dem Frieden seit seinem In-Kraft-Treten im Jahre 1970 gut gedient, und inzwischen gehören diesem universellen Vertragswerk 189 Staaten an. Die EU muss ihn offensiv verteidigen und mitwirken, dass er in allen seinen Teilen eingehalten wird. Kriegsdrohungen sind kontraproduktiv wie das Beispiel Nordkorea zeigt. Politisch wirksame Instrumentarien – wie die Schaffung atomwaffenfreier Zonen und Sicherheitsgarantien verbunden mit wirtschaftlichen Gegenleistungen – müssen her, um ein vertragskonformes Verhalten aller beteilgten Staaten durchzusetzen. Ganz aktuell betrifft das den Iran, der von den USA militärisch eingekreist ist – ein Tatbestand, vor dem die EU die Augen verschließt, um sich nicht mit Washinton anzulegen. Gleichwohl sind iranische Atomwaffen inakzeptabel – auch deshalb, weil sie einen nuklearen Rüstungswettlauf in der Region auslösen würden.

Vorrangig sollte sich die EU für einen verbindlichen Zeitplan engagieren, während dem alle Atomwaffen abzuschaffen sind. Nur wenn das erreicht wird, bleiben der NVV und sein Nichtverbreitungsregime am Leben. Handlungsorientierung dafür enthält der im vergangenen Jahr dem UN-Generalsekretär übergebene Bericht einer Kommission unter Leitung des früheren UN-Waffeninspektors Hans Blix. Darin wird mit Recht die Auffassung zurückgewiesen, dass „Atomwaffen in den Händen der einen keine Bedrohung darstellen, während sie im Besitz anderer die Welt einer tödlichen Gefahr aussetzen“. Wahr ist und bleibt: Solange nur ein Staat Atomwaffen hat, werden auch andere sie haben wollen.

Eine ähnliche, wenn auch nicht unmittelbar vergleichbare Situation ist beim Atomteststoppvertrag gegeben. Hier haben die USA ebenfalls den Schlüssel in der Hand. Wie können sie beispielsweise von Nordkorea verlangen, keine weiteren Atomtests durchzuführen, so Hans Blix, wenn sie selbst nicht bereit sind, sich dazu zu verpflichten? Solange sie den Atomteststoppvertrag nicht ratifizieren, werden das nicht einmal Atommächte wie China und schon gar nicht Staaten tun, die sich bedroht fühlen.

Ein weiteres Problem, dem sich die europäische Sicherheitspolitik zuwenden muss, ist die Verifikation und Kontrolle der Nichtverbreitung. Hier sind ebenso neue Lösungen gefragt wie bei der Kontrolle militärischer Trägertechnologien. Auch kann es nicht sein, dass sich IAEA-Kontrollen nur auf Nichtnuklearstaaten konzentrieren, während die zivilen Brennstoffkreisläufe der Atommächte ausgespart bleiben. Klärungsbedürftig ist auch die umstrittene Festlegung im NVV, wonach es für die zivile Nutzung keine Beschränkungen gibt – etwa für die Produktion von hochangereichertem Spaltmaterial, das für Nuklearwaffen benötigt wird. Schließlich gehört auch eine wesentlich restriktivere Rüstungsexportpolitik zu den Fragen, auf die sich die EU konzentrieren muss.

Aufgaben der deutschen Präsidentschaft

In Wahrnehmung seiner oft beschworenen Verantwortung für den Frieden in der Welt sollte Deutschland, das auf Atomwaffen verzichtet hat, als Impuls- und Ideengeber handeln und vor allem neue Initiativen auf den Weg bringen, um Abrüstung und Rüstungskontrolle zu einem zentralen Anliegen der EU und darüber hinaus der internationalen Politik zu machen. Davon ist im Ratsprogramm jedoch keine Rede. Es beschränkt sich vielmehr auf einige allgemeine und unverbindliche Floskeln. Wörtlich heißt es: „Im Bereich Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung gilt das strategische Interesse der weiteren Stärkung des multilateralen Regelwerks. Die Präsidentschaft wird ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Vorbereitung der Überprüfungskonferenz zum Vertrag über nukleare Nichtverbreitung richten.“

Nukleare Abrüstung, die bei den USA, der stärksten Nuklearmacht der Erde, und den anderen vier legalen Atommächten beginnen muss, sollte auf den Weg gebracht werden – ein zugegeben schwieriges, aber dennoch unvermeidliches Unterfangen, wenn der weiteren Verbreitung von Atomwaffen wirksam Einhalt geboten und damit verbundene Risiken bekämpft werden sollen. Mit anderen Worten: Die deutsche Präsidentschaft muss auf eine europäischen Sicherheitspolitik hinarbeiten, die sich weltweit für Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt. Im Übrigen könnte ein erster kleiner Schritt darin bestehen, mit den USA die Rückführung ihrer in Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, den Niederlanden und der Türkei verbliebenen Atomwaffen zu vereinbaren.

Erschienen in: DISPUT, Februar 2007

Verantwortung für den Frieden und die Aufgaben der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS

Von Tag zu Tag wird die Welt unsicherer – und nichts geschieht, um dem atomaren Wahnsinn wirksam zu begegnen. Es droht die atomare Anarchie, und die nuklearisierte Welt läuft Gefahr, sich früher oder später selbst zu vernichten. Genau diese Einsicht der beiden Supermächte USA und Sowjetunion war es, die 1968 den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), auch Atomwaffensperrvertrag genannt, mit der Maßgabe ins Leben rief, die Verbreitung nuklearer Waffen und Technologien zu verhindern. Einvernehmen bestand darüber, dass Staaten ohne Atomwaffen nicht von denen bedroht werden dürfen, die über diese Waffen gebieten. Aber davon ist fast nichts mehr geblieben.

Atomare Hemmschwelle sinkt

Traurige Auferstehung feiert stattdessen das Credo von Charles de Gaulle: „Alles entwickelt sich vom Nuklearen!“ Statt am NVV-Ziel einer „nuklearwaffenfreien Welt“ fetzuhalten, ist die Renuklearisierung der Weltpolitik in vollem Gange. Atomwaffen werden nicht mehr – wie zu Zeiten des Kalten Krieges – als letztes Mittel zur Abschreckung gesehen, sondern – wie die USA 1945 in Hiroshima und Nagasaki – wieder als Waffen zur Kriegsführung und Machtprojektion. Um die Androhung ihres Einsatzes glaubhafter zu machen, werden kleinere Nuklearwaffen („Mini-Nukes“) sowie Konzepte für präventive „Mini-Nuklearkriege“ entwickelt. Erwogen wird der „flexible“ Einsatz von Atomwaffen gegen so genannte Terrorstaaten, gegen Länder wie Iran, Nordkorea und Syrien. Gleichzeitig dürfen Pakistan, Indien und Israel das Nichtverbreitungsregime unbehelligt ignorieren, und sie können ihre zivilen und militärischen Nuklearprogramme weitgehend außerhalb internationaler Kontrolle betreiben.

Alles das trägt dazu bei, dass das globale Nichtverbreitungsregime so löcherig wird wie ein Schweizer Käse und dass die Schwelle für den Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen sinkt. Sie haben, so das Friedensforschungsinstitut Sipri, „als politische Währung nicht an Wert verloren, im Gegenteil“. Und das, obwohl der Internationale Haager Gerichtshof in seinem Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 eindeutig feststellte, es sei rechtswidrig, mit Atomwaffen zu drohen oder dieselben gar einzusetzen. Daraus ergebe sich die völkerrechtsverbindliche Pflicht, weltweit alle nuklearen Bestände abzurüsten. Tatsache ist jedoch, dass die nuklearen Risiken wachsen, wie Mohamed El-Bahradei, Generalsekretär der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), 2005 auf der Konferenz zur Überprüfung des NVV betonte. Einem Hilferuf gleich warnte der kürzlich aus dem Amt geschiedene UN-Generalsekretär Kofi Annan vor einer „sturzflutartigen Verbreitung“ von Atomwaffen, wenn nicht bald neue Maßnahmen gegen ihre Verbreitung ergriffen würden. Doch damit ist es schlechter bestellt denn je.

Dammbrüche am Nichtverbreitungsvertrag

Zweifelos steht die wichtigste rüstungskontrollpolitische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts auf dem Spiel, denn im vergangenen Jahr brachen fast alle Dämme des Nichtverbreitungsvertrags, der 1995 auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde. Hauptverantwortlich dafür ist die Doppelzüngigkeit der Nuklearpolitik der USA, aber auch der anderen vier im NVV offiziell anerkannten und damit legalen Atommächte Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Während die fünf Atommonopolisten als Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat je nach Interessenlage von anderen Staaten die Einhaltung des Sperrvertrags verlangen (oder auch nicht) und gegebenfalls mit drakonischen Sanktionen drohen, beanspruchen sie für sich selbst Nuklearwaffen auf Dauer, modernisieren sie ungestört und verletzen damit ihre verbindlich eingegangene Verpflichtung zur durchgreifenden atomaren Abrüstung. Von daher ist verständlich, dass sich Nichtatomwaffenstaaten von den Nuklearmächten hintergangen und betrogen fühlen.

Tödliche Gefahr droht dem Nichverbreitungsregime durch den von der Bush-Administration mit 100 Milliarden Dollar geplanten Einstieg in die Herstellung einer ganzen Generation neuer Atomwaffen und modernster Produktionsanlagen. Sie sollen alle nuklearen „Erblast-Waffen“ aus der Zeit des Kalten Kriges ablösen. Wenn die mächtigste Nuklearmacht der Welt ein derart gigantisches Programm auflegen kann, ohne dafür von der internationalen Staatengemeinschaft zur Rechenschaft gezogen zu werden, dann stellt sich die Frage, wie andere Länder daran gehindert werden können, ebenfalls den Irrweg des atomaren Abenteuers zu beschreiten.

Im Dezember 2006 trat das Nuklearabkommen USA-Indien in Kraft. Es sieht die Lieferung US-amerikanischer Nukleartechnologie und Uran vor. Damit schufen die USA einen gefährlichen Präzedenzfall: Indien wurde Profiteur des NVV, der alle Vorteile genießt, und blieb gleichzeitig Außenseiter des Vertrags, den seine Regeln nicht binden. Mit diesem offiziellen Deal wurde dem Atomwaffensperrvertrag ein schwerer Schlag versetzt. Durchbrochen wurde das bislang gültige Prinzip, dass Staaten, die sich dem NVV verweigern, auf keinen Fall nukleare Unterstützung bekommen dürfen, auch keine zivile, beispielsweise für Atomkraftwerke, die in Indien errichtet werden sollen. Aber das schert die USA nicht im Geringsten. Sie wollen den indischen Subkontinent als Gegengewicht zum aufstrebenden China gewinnen, weil sie damit rechnen, dass das Weltmachtspiel des 21. Jahrhunderts zwischen den USA und China ausgefochten wird. Zugleich verspricht sich die US-amerikanische Nuklearindustrie vom Einstieg ins indische Atomprogramm Super-Gewinne.

Beleg dafür, dass der Nichtverbreitungsvertrag vor allem durch das unilaterale Agieren der Bush-Administration immer brüchiger wird, ist die nukleare Selbstermächtigung des nordkoreanischen Regimes im Oktober vergangenen Jahres. 2003 verließ die KDVR den NVV und begründete dies vertragsgemäß damit, ihre „höchsten Interessen“ seien gefährdet. Zuvor, im Jahre 2002, hatte US-Präsident Bush die 1994 gegenüber Nordkorea von der Clinton-Regierung ausgesprochene Sicherheitsgarantie wieder aufgekündigt. Nordkorea wurde Teil der „Achse des Bösen“ und vom damaligen NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark zum Angriffsziel erklärt. Schließlich erteilten die USA Kim Jong-Il mit ihrem Einmarsch in den Irak die finale Lektion über Sinn und Zweck von Atomwaffen: Hätte Saddam Hussein die „Bombe“ besessen – die Aggression wäre nicht erfolgt!

„Nukleare“ Kettenreaktionen

Das Wehgeschrei über den nordkoreanischen Atomtest war noch nicht verklungen, und schon erfolgte in Japan ein schwer wiegender Tabubruch. Im Land, das den atomaren Massenmord erlitt, war die strikte Ablehnung einer Nuklearbewaffnung mehr als 60 Jahre unerschütterlicher Konsens der Politik. Jetzt wird er vom konservativen Flügel innerhalb der Regierungspartei LDP infrage gestellt, indem eine Debatte über eine japanische „Nuklearoption“ losgetreten wurde. Wenn Nachbarn Nuklearwaffen haben, könne man nicht umhin, die Frage nach eigenen Atomwaffen in Erwägung zu ziehen, so Außenminister Taro Aso. Das sind bedrohliche Signale, gehört Japan doch zu den wenigen Ländern, die über alle technischen und finanziellen Voraussetzungen verfügen, um rasch ein atomares Rüstungsprogramm aufzulegen. Es besitzt auch das notwendige Plutonium.

Aber für eine nukleare Aufrüstung Japans gibt es keine Mehrheit – weder in der Bevölkerung, noch in der Politik. Japan soll atomwaffenfrei bleiben. Allerdings wird die aus dem Atomtest Pyöngyangs abgeleitete Bedrohung instrumentalisiert, um die konventionelle Aufrüstung unterhalb der atomaren Schwelle deutlich zu forcieren. Dies kann einen Rüstungswettlauf in Ostasien auslösen. Auch eine Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung soll durchgesetzt werden. Mit dem Ende 2006 erlassenen Militärgesetz wurden die „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ bereits in eine offizielle Armee umgewandelt, die künftig ohne Sonderbewilligung des Parlaments bewaffnete Friedens- und Hilfsmissionen im Ausland durchführen kann. Aus dem „Amt für Selbstverteidigung“ wurde ein Verteidigungsministerium.

Ministerpräsident Shinzo Abe erklärte, vorrangiges Ziel sei, die atomare Bewaffnung Nordkoreas „mit allen Mitteln“ zu verhindern. Was darunter konkret zu verstehen ist, bleibt unklar. Auf jeden Fall weist die an die NATO gerichtete Bitte, sich der Nichtverbreitung von Atomwaffen anzunehmen, in die falsche Richtung. Für die Zukunft des NVV in Ostasien nimmt Japan eine Schlüsselstellung ein. Vom Fortgang der japanischen Nukleardebatte hängt viel ab, wie sich Südkorea und Taiwan künftig positionieren werden.

Ein Dauerbrenner der internationalen Politik sind die Atomambitionen des Iran, seien sie nun unterstellt oder eher real, denn auch die iranische Führung hat den Irakkrieg der USA als Lektion verstanden. Sie führten Ende 2006 zu Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen die Kernindustrie des Landes, obwohl der Iran mehrfach beteuerte, den Nichtverbreitungsvertrag einzuhalten. Neu ist, dass nunmehr vor allem in Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder der Türkei, die alle den USA relativ nahestehen, Rufe nach der „Bombe“ mit der Begründung lauter werden, Iran werde Atommacht und strebe die Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten an.

Auffällig ist zudem, dass diese Staaten wie auch Marokko, Algerien, Tunesien oder die Vereinigten Arabischen Emirate im vergangenen Jahr die IAEO um Unterstützung beim Aufbau ziviler Atomprogramme baten. Auch die Türkei will acht Reaktoren bauen – nur für zivile Zwecke, wie es heißt. Dadurch würden diese Staaten aber zugleich Erfahrungen im Umgang mit Nukleartechnologie sammeln, die für spätere Atomprogramme unverzichtbar sind. Der Sicherheitsexperte Ottfried Nassauer verweist in diesem Kontext auf ein Problem, und zwar darauf, ob die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen gesichert und gleichzeitig die friedliche Atomenergie unterstützt werden können. Bekanntlich entsteht Plutonium erst, wenn die Atomenergie genutzt wird, egal ob zivil oder militärisch.

Umorientierung der europäischen Sicherheitspolitik

Auf diese neuen sicherheitspolitischen Herausforderunghen hat die Europäische Union bislang keine adäquate Antwort. Aber nicht nur das: Abrüstung als politisches Ziel wird in der Europäischen Verfassung außen vor gelassen, während die EU-Mitgliedstaaten zur „Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten“ verpflichtet werden. Außerdem wird der internationalen militärischen Konfliklösung Vorschub geleistet. Auch in dem erst im Dezember 2003 verabschiedeten EU-Strategiekonzept „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ sind Themen wie atomare Abrüstung und effiziente Rüstungskontrolle ausgeblendet bzw. werden – ähnlich wie in den USA – auf die Bekämfung terroristischer Bedrohungen mit atomaren Hintergrund und auf Abrüstungsmaßnahmen in zerfallenden Drittstaaten beschränkt. Das ist nicht hinnehmbar. Die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen integrale Bestandteile der europäischen Sicherheitspolitik werden. Nur sie und nicht die Entwicklung der EU hin zu einer Militärmacht schaffen eine friedliche Weltordnung und ein sicheres Europa.

Der doppelzüngige Umgang der Bush-Regierung mit dem Nichtverbreitungsregime ist inakzeptabel und muss daher entschieden bekämpft werden. Der Atomwaffensperrvertrag hat – wenn auch unvollkommen – der internationalen Stabilität und dem Frieden seit seinem In-Kraft-Treten im Jahre 1970 gut gedient, und inzwischen gehören diesem universellen Vertragswerk 189 Staaten an. Die EU muss ihn offensiv verteidigen und mitwirken, dass er in allen seinen Teilen eingehalten wird. Kriegsdrohungen sind kontraproduktiv wie das Beispiel Nordkorea zeigt. Politisch wirksame Instrumentarien – wie die Schaffung atomwaffenfreier Zonen und Sicherheitsgarantien verbunden mit wirtschaftlichen Gegenleistungen – müssen her, um ein vertragskonformes Verhalten aller beteilgten Staaten durchzusetzen. Ganz aktuell betrifft das den Iran, der von den USA militärisch eingekreist ist – ein Tatbestand, vor dem die EU die Augen verschließt, um sich nicht mit Washinton anzulegen. Gleichwohl sind iranische Atomwaffen inakzeptabel – auch deshalb, weil sie einen nuklearen Rüstungswettlauf in der Region auslösen würden.

Vorrangig sollte sich die EU für einen verbindlichen Zeitplan engagieren, während dem alle Atomwaffen abzuschaffen sind. Nur wenn das erreicht wird, bleiben der NVV und sein Nichtverbreitungsregime am Leben. Handlungsorientierung dafür enthält der im vergangenen Jahr dem UN-Generalsekretär übergebene Bericht einer Kommission unter Leitung des früheren UN-Waffeninspektors Hans Blix. Darin wird mit Recht die Auffassung zurückgewiesen, dass „Atomwaffen in den Händen der einen keine Bedrohung darstellen, während sie im Besitz anderer die Welt einer tödlichen Gefahr aussetzen“. Wahr ist und bleibt: Solange nur ein Staat Atomwaffen hat, werden auch andere sie haben wollen.

Eine ähnliche, wenn auch nicht unmittelbar vergleichbare Situation ist beim Atomteststoppvertrag gegeben. Hier haben die USA ebenfalls den Schlüssel in der Hand. Wie können sie beispielsweise von Nordkorea verlangen, keine weiteren Atomtests durchzuführen, so Hans Blix, wenn sie selbst nicht bereit sind, sich dazu zu verpflichten? Solange sie den Atomteststoppvertrag nicht ratifizieren, werden das nicht einmal Atommächte wie China und schon gar nicht Staaten tun, die sich bedroht fühlen.

Ein weiteres Problem, dem sich die europäische Sicherheitspolitik zuwenden muss, ist die Verifikation und Kontrolle der Nichtverbreitung. Hier sind ebenso neue Lösungen gefragt wie bei der Kontrolle militärischer Trägertechnologien. Auch kann es nicht sein, dass sich IAEA-Kontrollen nur auf Nichtnuklearstaaten konzentrieren, während die zivilen Brennstoffkreisläufe der Atommächte ausgespart bleiben. Klärungsbedürftig ist auch die umstrittene Festlegung im NVV, wonach es für die zivile Nutzung keine Beschränkungen gibt – etwa für die Produktion von hochangereichertem Spaltmaterial, das für Nuklearwaffen benötigt wird. Schließlich gehört auch eine wesentlich restriktivere Rüstungsexportpolitik zu den Fragen, auf die sich die EU konzentrieren muss.

Aufgaben der deutschen Präsidentschaft

In Wahrnehmung seiner oft beschworenen Verantwortung für den Frieden in der Welt sollte Deutschland, das auf Atomwaffen verzichtet hat, als Impuls- und Ideengeber handeln und vor allem neue Initiativen auf den Weg bringen, um Abrüstung und Rüstungskontrolle zu einem zentralen Anliegen der EU und darüber hinaus der internationalen Politik zu machen. Davon ist im Ratsprogramm jedoch keine Rede. Es beschränkt sich vielmehr auf einige allgemeine und unverbindliche Floskeln. Wörtlich heißt es: „Im Bereich Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung gilt das strategische Interesse der weiteren Stärkung des multilateralen Regelwerks. Die Präsidentschaft wird ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Vorbereitung der Überprüfungskonferenz zum Vertrag über nukleare Nichtverbreitung richten.“

Nukleare Abrüstung, die bei den USA, der stärksten Nuklearmacht der Erde, und den anderen vier legalen Atommächten beginnen muss, sollte auf den Weg gebracht werden – ein zugegeben schwieriges, aber dennoch unvermeidliches Unterfangen, wenn der weiteren Verbreitung von Atomwaffen wirksam Einhalt geboten und damit verbundene Risiken bekämpft werden sollen. Mit anderen Worten: Die deutsche Präsidentschaft muss auf eine europäischen Sicherheitspolitik hinarbeiten, die sich weltweit für Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt. Im Übrigen könnte ein erster kleiner Schritt darin bestehen, mit den USA die Rückführung ihrer in Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, den Niederlanden und der Türkei verbliebenen Atomwaffen zu vereinbaren.

Erschienen in: DISPUT, Februar 2007