Interessenvertretung im Europäischen Parlament
Interview-Beitrag für das Praxisbuch:
Politische Interessenvermittlung
Instrumente – Kampagnen – Lobbying
Hrsg.: Rieksmeier, Jörg
VS-verlag, 2007
Interessenvertretung im Europäischen Parlament
Sylvia-Yvonne Kaufmann, Linkspartei.PDS-Abgeordnete des Europäischen Parlaments
1 Legitimität des Europäischen Lobbying
Welche Einstellung vertreten Sie als Abgeordnete zum Lobbying?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Lobbying gehört zum Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Deshalb habe ich keine negative oder mit Vorur-teilen behaftete Einstellung. Lobbying ist für mich fester Bestandteil der parla-mentarischen Arbeit. Will man als Abgeordnete verantwortungsbewusst ent-scheiden, dann gehört die Anhörung der Interessen dazu. Denn kaum anders können wir uns rechtzeitig und umfassend sachkundig machen, um anschließend gewissenhaft und sachgerecht Entscheidungen zu treffen.
Für das Lobbying im arbeitsteiligen Prozess der europäischen Entschei-dungsfindung sprechen aus meiner Sicht mindestens drei Gründe:
Erstens ist es weder für den einzelnen Abgeordneten noch für die Fraktio-nen überhaupt möglich, alle Gesichtspunkte der zur Entscheidung stehenden Themen eigenständig zu erfassen. Jeder Abgeordnete ist auf bestimmte Bereiche und Themenfelder spezialisiert, dennoch fehlt uns oft das vertiefte Expertenwis-sen der unterschiedlichen Gesellschaftsbereiche und die entsprechende Beurtei-lung aus dem jeweiligen Blickwinkel.
Zweitens: Damit wir uns ein eigenes Bild der oft sehr komplexen Zusam-menhänge machen können, sind wir nicht nur auf möglichst umfassende Infor-mationen angewiesen, sondern gerade die Polarisierung aller betroffenen Berei-che hilft uns bei der Orientierung unserer Entscheidungen. Auch wenn oder gerade weil wir im Auftrag unseres Wählerklientels politische Gewichtungen treffen, sind wir stets auch dem Gemeinwohl verpflichtet. Das Gesamtbild der unterschiedlichen und häufig gegensätzlichen Gesellschaftsinteressen führt uns Kosten und Nutzen unserer Entscheidungen vor Augen, und das ist gut so.
Und Drittens: Wir machen Gesetze für Europa, sprich für 500 Millionen Menschen in 25 und bald 27 Mitgliedsländern mit völlig verschiedenen politi-schen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen, mit unterschiedlichen Traditionen und Rechtsauffassungen. Da ist es für einen Europaabgeordneten unmöglich, ausschließlich mit den eigenen national geprägten Erfahrungen verantwortungsbewusst agieren und entscheiden zu wollen. Das Lobbying erhält in sofern auf europäischer Ebene eine zusätzliche Bedeutung – zum Beispiel im Vergleich zum Bundestag. Denn will man nicht nur dem nationalen, sondern dem gesamteuropäischen Gemeinwohl dienen, so steht man vor der Herausforderung, die immense Unterschiedlichkeit in Europa zu erfassen.
2 Lobbying in der parlamentarischen Wahrnehmung
Wann und zu wem suchen Lobbyisten im Europäischen Parlament Kontakt?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Nicht alle Abgeordneten des Europäischen Parla-ments stehen gleichermaßen im Blickpunkt der Lobbyisten. Das hängt zunächst von der Ausschusszugehörigkeit und den jeweils betreuten Politikbereichen der einzelnen Abgeordneten ab. Im Rechtsausschuss oder Industrie- und Wirt-schaftsausschusses wird das Lobbying eine andere Intensität und einen anderen Umfang erreichen, als wenn man im Verfassungsausschuss tätig ist.
Das Ausmaß der Interessenvermittlung hängt aber auch vom Regelungsge-genstand und von den zu erwartenden Folgen der geplanten Rechtsetzung ab. Bei umstrittenen oder kontroversen Gesetzesvorhaben mit gravierenden Auswirkun-gen auf große Teile der europäischen Gesellschaft, wie etwa jüngst bei der REACH-Verordnung oder bei der Dienstleistungsrichtlinie, steigen naturgemäß die Erwartungshaltungen auf Seiten der Betroffenen und der öffentliche Druck allgemein.
Das dritte Kriterium ist die Funktion des jeweiligen Abgeordneten im kon-kreten Gesetzgebungsverfahren. Den Meinungsführern der Fraktionen, den par-teipolitischen Sprechern und Berichterstattern messen Lobbyisten verständli-cherweise mehr Bedeutung bei, als den übrigen Ausschussmitgliedern oder der Allgemeinheit der Parlamentarier. Als Mitglied des Europäischen Verfassungs-konvents habe ich ein besonderes Interesse an meiner Parlamentsfunktion mit dem Moment erlebt, als deutlich wurde, dass wir mit dem Verfassungsentwurf Weichen für die zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union stellen wer-den. Auch in meiner Funktion als Berichterstatterin zum Weißbuch der Kommis-sion Europäisches Regieren’ nahm ich durchaus ein vermehrtes Gesprächsinte-resse wahr. Bei fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren mit hoher öffentlicher Brisanz ist das Lobbying natürlich nochmals stärker als bei Initiativberichten oder Stellungnahmen des Parlaments.
Welche Interessenvertreter kommen auf die EU-Parlamentarier zu?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Grundsätzlich treten alle Interessengruppierungen an die EU-Parlamentarier heran, seien es Unternehmen, nationale Interessenver-bände, Vertreter aus den Bundesländern oder europäische Dachverbände, und auch außereuropäische Handelskammern zum Beispiel. Im Einzelfall starten Berufsgruppen wahre Kampagnen für ihre Interessen, andere bauen eher auf Informationen und Hintergrundgespräche. Doch letztendlich lässt sich nicht sagen, dass beispielsweise Umweltlobbyisten weniger präsent sind als Wirt-schaftslobbyisten.
Wo immer Belange von Teilen der Gesellschaft durch europäische Rege-lungen betroffen sind, werden zum jeweiligen Gegenstand Interessen oder Vor-schläge unterbreitet: Gewerkschaften genauso wie der Bundesverband der deut-schen Industrie, der Europäische Unternehmerverband, Umweltverbände, die Chemieindustrie oder die Kirchen. Das Lobbying ist entsprechend massiv, wenn in Europa sehr konträre Positionen aufeinanderprallen oder die zu beschließen-den Maßnahmen einschneidende Folgen für große Bevölkerungsgruppen oder die Wirtschaft haben.
Welchen Umfang nimmt das Lobbying im heutigen Parlamentsalltag ein?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Welche Aufmerksamkeit Parlamentarier dem Lob-bying widmen ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Ich persönlich führe relativ selten Einzelgespräche. Doch das handhaben andere Kollegen natürlich auch anders. In meinem Alltag treten Lobbyisten in erster Linie schriftlich an mich heran, insbesondere in Form von Emails, sowohl zu Fragen der Einzelabstim-mung, als auch allgemein in Form von zahlreichen Mailings und Informationen durch Verbände.
In dem Maße, wie die neuen Medien, vor allem das Internet, an Bedeutung gewonnen haben, hat auch das Massen-Mailing in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aus parlamentarischer Sicht ist dieses Phänomen zum Teil sehr unerfreulich. Denn immer wieder sind wir Kampagnen ausgesetzt, die uns mit Mails regelrecht „bombardieren“ und unsere Arbeitsmöglichkeiten behindern. Diese aggressiv vorgetragene Form der Interessenvertretung schadet jedoch den Zielen der Lobbygruppen, denn sie verspielen dabei in der Regel jegliche Gesprächsbereitschaft auf parlamentarischer Ebene.
Hochphasen der Einflussnahme erleben wir besonders vor wichtigen Abstim-mungen, insbesondere, wenn sich abzeichnet, dass Entscheidungen knapp ausfal-len könnten. Dann greifen einige Interessenvertreter gerne zum gesamten parla-mentarischen Mail- oder Fax-Verteiler, um auf ihre Positionen aufmerksam zu machen.
Zu welchen Gelegenheiten treten Sie persönlich mit Interessenvertretern in Kon-takt?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Die Teilnahme an Informations- und Lobbyveran-staltungen wird unter Parlamentariern sehr unterschiedlich gehandhabt. Jeder Abgeordnete hat zur Bewältigung seines Aufgabenpensums in der Regel einen sehr straffen Tagesplan. Es hängt von der individuellen Prioritätensetzung ab, ob er den Besuch von parlamentarischen Abenden als sinnvoll erachtet. Ich suche mir die Veranstaltungen sehr genau aus, zu denen ich gehe, und das ist relativ selten.
Da das Europäische Parlament im Gegensatz zum Bundestag in den Aus-schusssitzungen öffentlich tagt, ist der Kontakt zu Lobbyisten im politischen Arbeitsalltag unmittelbar gegeben. Denn die Interessenvertreter nutzen die Mög-lichkeit, im Umfeld der Ausschusssitzungen den Abgeordneten ihre Positionen im Gespräch darzulegen. Ich halte meist mehr von derartigen direkten Zwiege-sprächen, als von einseitig ausgerichteten parlamentarischen Abenden. Doch hin und wieder interessieren mich auch Themen oder Veranstaltungen, und dann nehme ich die Einladungen wahr, zum Beispiel wenn soziale Belange anstehen oder Fragen der europäischen Einigung.
Was sind weitere Besonderheiten der europäischen, parlamentarischen Interes-senvertretung?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Das Europäische Parlament ist im letzten Jahr-zehnt mit seinen sukzessive ausgeweiteten Kompetenzen verstärkt in den Blick-punkt der Lobbyisten geraten. Nicht nur die europäischen Verbände wissen in-zwischen, dass das Parlament gewichtige Mitentscheidungsrechte hat. Darauf haben sich Lobbyisten eingestellt und verfolgen die Arbeiten im Parlament sehr genau. Sie nehmen an Ausschusssitzungen teil und verfolgen die Diskussion und den Stand eines Gesetzgebungsverfahrens. Durch die öffentlichen Sitzungen sind die Positionen der einzelnen Abgeordneten sehr transparent. Als Konsequenz sprechen Lobbyisten im Rahmen ihrer Überzeugungsbemühungen Abgeordnete gezielt an.
Anders als auf Bundesebene werden Interessen auf europäischer Ebene in einem offenen und strukturierten Prozess frühzeitig in die Entscheidungsfindung mit eingebunden, sowohl von Seiten der Europäischen Kommission als auch im Parlament. Die Kommission führt vor jedem Gesetzgebungsverfahren umfang-reiche Anhörungen durch und lädt Verbände zur Positionierung ein. Noch bevor ein erster Richtlinienentwurf verfasst wird, findet zumeist eine intensive Bera-tung auf der Grundlage so genannter Grün- und Weißbücher statt.
3 Orientierung für ein professionelles Lobbying
Welche Form der Interessenvertretung befürworten Sie?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Ich bin offen und dankbar für Information und Posi-tionspapiere, die sich auf das Wesentliche beschränken. Sie sollen mir einerseits die Interessen und Ziele des Verfassers verdeutlichen sowie darüber hinaus sach-lich und schlüssig argumentieren. Ich mag es nicht, wenn man mich unter Druck setzt oder wenn ich fadenscheinige Argumente wittere.
Parlamentarier sind auf vielfältige Sachinformationen angewiesen. Dazu hö-re ich mir die unterschiedlichen Informationen, Positionen und Argumente gerne an. Die Kunst der guten Interessenvertretung besteht darin, den Kenntnisstand der parlamentarischen Gesprächspartner in kürzester Zeit durch gute Informati-onsaufbereitung und verständliche Argumentation zu ergänzen. Natürlich besteht keine Garantie, dass ich mich der Argumentation anschließe. Denn von meiner persönlichen Bewertung abgesehen sind die vielfältigen Positionen überdies meist unversöhnlich.
Was sind Beispiele für best practice oder bad practice des Lobbyings?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Als Negativbeispiel aus dem Bereich der Interes-senvermittlung fällt mir spontan die Dr. Rath-Vitaminkampagne im Vorfeld der Nahrungsergänzungs-Richtlinie 2002 ein. Nicht besonders freundlich war das Bombardement mit Massenmails, genauso wenig die Lkw-Demonstration mit großen Transparenten um das Parlamentsgebäude. Doch besonders perfide war, dass er schwer kranke Menschen missbrauchte, indem er sie mit verdrehten Ar-gumenten für sich gewann, die in ihrem Namen zugunsten seiner Vitaminpräpa-rate persönliche Lobbybriefe an Abgeordnete schickten. Die Briefe der aufge-hetzten Kranken ließen die privaten Briefkästen der Kollegen überquellen, und es gab wohl sogar Morddrohungen gegen die damalige Berichterstatterin.
Ein ausgesprochen positives Beispiel aus meinem unmittelbaren Tätigkeits-bereich waren in meinen Augen die Beratungen zur Europäischen Verfassung. Als die Dimension des neuen EU-Vertrages erkennbar wurde, setzte eine sehr konstruktive Diskussion in und um den Konvent mit zahlreichen Nichtregie-rungsorganisationen und Verbänden ein. Insbesondere die intensive, aber sachli-che Atmosphäre unter allen Beteiligten hat mich sehr beeindruckt. Wir hatten einen strukturierten Dialog mit Nichtregierungsorganisationen über den Wirt-schafts- und Sozialausschuss, es gab Anhörungen des Verfassungskonvents, und natürlich haben auch die einzelnen Interessensverbände ganz konkrete Vorschlä-ge für einzelne Verfassungsartikel an die Mitglieder herangebracht. Es war ein hochinteressanter, produktiver Austausch, dessen Erfolg – zumindest bis zum damaligen Zeitpunkt – wesentlich auf die starke Einbindung der Nichtregie-rungsorganisationen und der Öffentlichkeit zurückzuführen war.
Wo lässt sich das Zusammenwirken von Gesellschaftsinteressen und politischer Ebene verbessern?
Sylvia-Yvonne Kaufmann: Ein lästiges Problem aus meiner praktischen Erfah-rung ist das Zeitmanagement im Gespräch mit Interessenvertretern. Häufig nei-gen Gesprächspartner dazu, den zeitlichen Rahmen zu überziehen. Aus diesen Erfahrungen versuche ich persönliche Gespräche auf ein Mindestmaß zu reduzie-ren. Ich persönlich setze eher auf knappe Texte.
Ganz allgemein ist Transparenz das A und O beim Lobbying. Ich möchte als Abgeordnete genau wissen, für wen und für welche Ziele mein Gesprächs-partner eintritt, welchen Hintergrund er hat, welche finanziellen Interessen da-hinter stehen, warum er sich persönlich und für seine Organisation engagiert. Für mich – und wohl die meisten Kollegen – ist es entscheidend, dass Lobbyisten mit offenem Visier agieren und nicht versuchen, uns mit „gezinkten“ Informationen über den Tisch zu ziehen. Solche Personen verlieren schnell und dauerhaft ihre Glaubwürdigkeit.
Ich befürworte sehr den formalisierten Weg der Interessenvertretungen, wie wir ihn durch die Vielzahl der Expertenkommissionen auf EU-Ebene, insbeson-dere bei der Kommission kennen. Ich bin für eine Ausweitung der Anhörungen und Expertengespräche auch auf Seiten des Parlaments, weil auf diesem Wege relative Gleichheit für alle Diskussionsteilnehmer herrscht.
(Sylvia-Yvonne Kaufmann ist Abgeordnete der Links-partei.PDS und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments)
Das Interview erschien als Beitrag in dem Buch:
in dem Buch:
Praxisbuch: Politische Interessenvermittlung
Instrumente – Kampagnen – Lobbying
Hrsg.: Rieksmeier, Jörg
VS-verlag, 2007