Europa wird entweder sozial oder es wird scheitern

Namensbeitrag auf POLIXEA Portal

Hierzulande wie in anderen EU-Staaten können Bürgerinnen und Bürger aufatmen. Sie unmittelbar betreffende Inhalte der EU-Verfassung sind nicht „tot“, wie uns Verfassungsgegner und Euroskeptiker seit dem Juni-Gipfel der EU erneut einreden wollen. Zwar bekommt die Europäische Union bedauerlicherweise keinen umfassenden Verfassungsvertrag, der die bisherigen Verträge ersetzt hätte, sondern lediglich ein „Nizza Plus“ in Form eines Reformvertrages. Die rechtliche Substanz des Verfassungsvertrages bleibt aber größtenteils erhalten. Der Reformvertrag wird über den geltenden Nizza-Vertrag weit hinausgehen – auch im sozialen Bereich. Das ist die positive Botschaft des Gipfels. Allerdings fehlte von der deutschen Ratspräsidentschaft ein starkes Plädoyer für eine Sozialunion als Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Offenbar wissen die Regierungen nicht, wie es um die soziale Realität in Europa bestellt ist. Das jedenfalls gab der Europäische Rat in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes zu erkennen, wo es lapidar heißt, dass man einer diesbezüglichen Bestandsaufnahme der Kommission „erwartungsvoll“ entgegensehe. Es wird eben immer noch nicht begriffen, dass es die Dominanz neoliberaler Politik ist, die die europäische Einigung gefährdet. Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker hat Recht: Europa wird entweder sozial oder es wird scheitern!

Politische Union oder Freihandelszone
Hinter den Auseinandersetzungen um die Verfassung verbirgt sich in Wirklichkeit ein Kampf zwischen den beiden alten Grundrichtungen europäischer Politik, und zwar zwischen den Kräften, die eine politische Union mit einer sozialen Ausrichtung anstreben und jenen, die sie – wie Tony Blair und sein Nachfolger Gordon Brown – auf eine Freihandelszone ohne Sozialhaftung mit Lohn- und Steuerdumping reduzieren wollen. Auf dem Gipfel wurde dieser Konflikt an der Grundrechtecharta manifest. Sie wird für Großbritannien keine Rechtsverbindlichkeit erlangen, weil sie neben Freiheitsrechten auch soziale Rechte wie das Recht auf bezahlten Urlaub, das Recht auf Kollektivvertragshandlungen oder das Streikrecht enthält, was mit dem liberalen Arbeitsmarkt auf der Insel nicht vereinbar sei. Dieser Richtungskampf hatte bereits dem Verfassungskonvent 2002/2003 und der anschließenden Regierungskonferenz 2003/2004 seinen Stempel aufgedrückt: Wen schützt die Union – zuvörderst die Menschen oder die Märkte? Durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden war er mit voller Wucht neu entflammt. Auf dem EU-Gipfel erlebte er seine Fortsetzung.

Europäischen Willen entwickeln
Ein soziales Europa wird nur möglich, wenn die EU nach innen wie nach außen das Gewicht erhält und die Instrumente bekommt, um die Globalisierung human und sozial zu gestalten. Der Reformvertrag weist dahin. Aber erforderlich sind nicht nur geeignete Verträge und effizientere Entscheidungsverfahren, sondern vor allem ein gemeinsamer politischer, sprich europäischer Wille. Von dem war auf dem Gipfel aber nur wenig zu spüren. Vielmehr erhielt das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten einen kräftigen Schub. Bereits jetzt trägt die EU mit Euro-Zone und Schengen-Raum einen Spaltpilz in sich. Dass sich diejenigen durchsetzen konnten, die keine gemeinsame Fahne und Hymne wollen, symbolisiert, wie fragil die europäische Einigung noch ist und wie zerstörerisch nationale Egoismen wirken. Auch hat das Gefeilsche der Regierungen hinter verschlossenen Türen die EU weder den Bürgern näher gebracht, noch ihr internationales Erscheinungsbild als eine dynamische agierende supranationale Gemeinschaft aufgebessert.

Neue soziale Vertragsgrundlagen
Wie bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen, wird auch durch den Reformvertrag das soziale Europa gestärkt – vorausgesetzt, die einberufene Regierungskonferenz folgt dem vom Europäischen Rat erteilten Mandat, und der Vertrag wird in allen EU-Staaten ratifiziert. Der sozialstaatliche Kerngehalt findet sich im Verfassungsvertrag unter anderem in Artikel I-3, der die EU auf den Grundsatz einer „sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, festlegt. Ferner heißt es: „Die Union bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Diese Ziele und Grundsätze gehen weit über die sozialstaatlichen Verfassungsvorgaben des deutschen Grundgesetzes hinaus. Sie gelten für alle Bereiche der EU-Politik, so auch für den Bereich des Binnenmarktes mit seinen Rechtsangleichungskompetenzen, dem Wettbewerbsrecht und den steuerlichen Regelungen. Hier kommt die erstmalige Zurückdrängung des im geltenden EU-Vertrag verankerten Grundsatzes der „offenen Marktwirtschaft“ zugunsten der „sozialen Marktwirtschaft“ einem Paradigmenwechsel gleich. Denn nicht vergessen werden darf, dass die EU mit dem Maastrichter Vertrag von 1992, der die Währungs- und Wirtschaftsunion begründete, noch ausdrücklich auf die „offene Marktwirtschaft“ verpflichtet wurde – einem neoliberalen Konzept, das für die Europäische Gemeinschaft seit 1957 galt. Bedeutsam ist auch, dass die Werte, auf denen die Union ruht, erstmals um das Prinzip „Gleichheit“ erweitert wurden. Nach vorne weist die neue sozialpolitische Querschnittsklausel (Artikel III-117 des Verfassungsvertrags). Danach muss die Union künftig bei jeder einzelnen Maßnahme, zum Beispiel einer Verordnung oder Richtlinie, nachweisen, dass sie den „Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes“ Rechnung trägt.

Gewiss, all diese Regelungen sind kein Selbstläufer. Das zu glauben, wäre mehr als blauäugig. Um sie auszufüllen, ist beharrliches politisches Engagement von Nöten. Entscheidend ist, dass der Reformvertrag ebenso wie ursprünglich der Verfassungsvertrag hier Spielräume für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit eröffnet. Ob und wie weit sie genutzt werden, hängt selbstverständlich von den jeweils gegebenen politischen Kräftekonstellationen ab.

Wettbewerb und Daseinsvorsorge
Zu begrüßen ist, dass das Mandat für die Regierungskonferenz vorsieht, den „freien und unverfälschten Wettbewerb“ aus den Zielen der Union zu streichen. Die Kommission bemühte sich sofort, diese Änderung herunterzuspielen. Schließlich sei der Wettbewerb ohnehin nie ein Ziel, sondern stets nur ein Mittel zur Verwirklichung der Ziele gewesen. Die Praxis spricht freilich eine ganz andere Sprache. Wettbewerb ist immer mehr zum Selbstzweck geworden. Dieser Fehlentwicklung wird nun ein rechtlicher Riegel vorgeschoben. Über das neu vorgesehene Protokoll zu den Diensten von allgemeinem Interesse wird zudem ausdrücklich die Sicherung der Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten als einer der Bereiche definiert, denen sich zukünftig die Wettbewerbspolitik unterzuordnen hat: Die Daseinsvorsorge erhält Vorrang vor dem Wettbewerb. Der Grundsatz des unverfälschten Wettbewerbs, der beispielsweise den Machtmissbrauch der Großen gegenüber den Kleinen verhindert, ist damit aber keineswegs aus dem Wirtschaftssystem der Union verbannt worden. Er wird auch weiterhin einen eigenen Politikbereich im Binnenmarkt darstellen, der jedoch nicht mehr auf einer ungebremsten freien Marktwirtschaft basieren wird, sondern nunmehr auf dem Grundsatz der „sozialen Marktwirtschaft“.

Hierzulande wie in anderen EU-Staaten können Bürgerinnen und Bürger aufatmen. Sie unmittelbar betreffende Inhalte der EU-Verfassung sind nicht „tot“, wie uns Verfassungsgegner und Euroskeptiker seit dem Juni-Gipfel der EU erneut einreden wollen. Zwar bekommt die Europäische Union bedauerlicherweise keinen umfassenden Verfassungsvertrag, der die bisherigen Verträge ersetzt hätte, sondern lediglich ein „Nizza Plus“ in Form eines Reformvertrages. Die rechtliche Substanz des Verfassungsvertrages bleibt aber größtenteils erhalten. Der Reformvertrag wird über den geltenden Nizza-Vertrag weit hinausgehen – auch im sozialen Bereich. Das ist die positive Botschaft des Gipfels. Allerdings fehlte von der deutschen Ratspräsidentschaft ein starkes Plädoyer für eine Sozialunion als Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Offenbar wissen die Regierungen nicht, wie es um die soziale Realität in Europa bestellt ist. Das jedenfalls gab der Europäische Rat in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes zu erkennen, wo es lapidar heißt, dass man einer diesbezüglichen Bestandsaufnahme der Kommission „erwartungsvoll“ entgegensehe. Es wird eben immer noch nicht begriffen, dass es die Dominanz neoliberaler Politik ist, die die europäische Einigung gefährdet. Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker hat Recht: Europa wird entweder sozial oder es wird scheitern!

Politische Union oder Freihandelszone

Hinter den Auseinandersetzungen um die Verfassung verbirgt sich in Wirklichkeit ein Kampf zwischen den beiden alten Grundrichtungen europäischer Politik, und zwar zwischen den Kräften, die eine politische Union mit einer sozialen Ausrichtung anstreben und jenen, die sie – wie Tony Blair und sein Nachfolger Gordon Brown – auf eine Freihandelszone ohne Sozialhaftung mit Lohn- und Steuerdumping reduzieren wollen. Auf dem Gipfel wurde dieser Konflikt an der Grundrechtecharta manifest. Sie wird für Großbritannien keine Rechtsverbindlichkeit erlangen, weil sie neben Freiheitsrechten auch soziale Rechte wie das Recht auf bezahlten Urlaub, das Recht auf Kollektivvertragshandlungen oder das Streikrecht enthält, was mit dem liberalen Arbeitsmarkt auf der Insel nicht vereinbar sei. Dieser Richtungskampf hatte bereits dem Verfassungskonvent 2002/2003 und der anschließenden Regierungskonferenz 2003/2004 seinen Stempel aufgedrückt: Wen schützt die Union – zuvörderst die Menschen oder die Märkte? Durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden war er mit voller Wucht neu entflammt. Auf dem EU-Gipfel erlebte er seine Fortsetzung.

Europäischen Willen entwickeln

Ein soziales Europa wird nur möglich, wenn die EU nach innen wie nach außen das Gewicht erhält und die Instrumente bekommt, um die Globalisierung human und sozial zu gestalten. Der Reformvertrag weist dahin. Aber erforderlich sind nicht nur geeignete Verträge und effizientere Entscheidungsverfahren, sondern vor allem ein gemeinsamer politischer, sprich europäischer Wille. Von dem war auf dem Gipfel aber nur wenig zu spüren. Vielmehr erhielt das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten einen kräftigen Schub. Bereits jetzt trägt die EU mit Euro-Zone und Schengen-Raum einen Spaltpilz in sich. Dass sich diejenigen durchsetzen konnten, die keine gemeinsame Fahne und Hymne wollen, symbolisiert, wie fragil die europäische Einigung noch ist und wie zerstörerisch nationale Egoismen wirken. Auch hat das Gefeilsche der Regierungen hinter verschlossenen Türen die EU weder den Bürgern näher gebracht, noch ihr internationales Erscheinungsbild als eine dynamische agierende supranationale Gemeinschaft aufgebessert.

Neue soziale Vertragsgrundlagen

Wie bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen, wird auch durch den Reformvertrag das soziale Europa gestärkt – vorausgesetzt, die einberufene Regierungskonferenz folgt dem vom Europäischen Rat erteilten Mandat, und der Vertrag wird in allen EU-Staaten ratifiziert. Der sozialstaatliche Kerngehalt findet sich im Verfassungsvertrag unter anderem in Artikel I-3, der die EU auf den Grundsatz einer „sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, festlegt. Ferner heißt es: „Die Union bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Diese Ziele und Grundsätze gehen weit über die sozialstaatlichen Verfassungsvorgaben des deutschen Grundgesetzes hinaus. Sie gelten für alle Bereiche der EU-Politik, so auch für den Bereich des Binnenmarktes mit seinen Rechtsangleichungskompetenzen, dem Wettbewerbsrecht und den steuerlichen Regelungen. Hier kommt die erstmalige Zurückdrängung des im geltenden EU-Vertrag verankerten Grundsatzes der „offenen Marktwirtschaft“ zugunsten der „sozialen Marktwirtschaft“ einem Paradigmenwechsel gleich. Denn nicht vergessen werden darf, dass die EU mit dem Maastrichter Vertrag von 1992, der die Währungs- und Wirtschaftsunion begründete, noch ausdrücklich auf die „offene Marktwirtschaft“ verpflichtet wurde – einem neoliberalen Konzept, das für die Europäische Gemeinschaft seit 1957 galt. Bedeutsam ist auch, dass die Werte, auf denen die Union ruht, erstmals um das Prinzip „Gleichheit“ erweitert wurden. Nach vorne weist die neue sozialpolitische Querschnittsklausel (Artikel III-117 des Verfassungsvertrags). Danach muss die Union künftig bei jeder einzelnen Maßnahme, zum Beispiel einer Verordnung oder Richtlinie, nachweisen, dass sie den „Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes“ Rechnung trägt.

Gewiss, all diese Regelungen sind kein Selbstläufer. Das zu glauben, wäre mehr als blauäugig. Um sie auszufüllen, ist beharrliches politisches Engagement von Nöten. Entscheidend ist, dass der Reformvertrag ebenso wie ursprünglich der Verfassungsvertrag hier Spielräume für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit eröffnet. Ob und wie weit sie genutzt werden, hängt selbstverständlich von den jeweils gegebenen politischen Kräftekonstellationen ab.

Wettbewerb und Daseinsvorsorge

Zu begrüßen ist, dass das Mandat für die Regierungskonferenz vorsieht, den „freien und unverfälschten Wettbewerb“ aus den Zielen der Union zu streichen. Die Kommission bemühte sich sofort, diese Änderung herunterzuspielen. Schließlich sei der Wettbewerb ohnehin nie ein Ziel, sondern stets nur ein Mittel zur Verwirklichung der Ziele gewesen. Die Praxis spricht freilich eine ganz andere Sprache. Wettbewerb ist immer mehr zum Selbstzweck geworden. Dieser Fehlentwicklung wird nun ein rechtlicher Riegel vorgeschoben. Über das neu vorgesehene Protokoll zu den Diensten von allgemeinem Interesse wird zudem ausdrücklich die Sicherung der Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten als einer der Bereiche definiert, denen sich zukünftig die Wettbewerbspolitik unterzuordnen hat: Die Daseinsvorsorge erhält Vorrang vor dem Wettbewerb. Der Grundsatz des unverfälschten Wettbewerbs, der beispielsweise den Machtmissbrauch der Großen gegenüber den Kleinen verhindert, ist damit aber keineswegs aus dem Wirtschaftssystem der Union verbannt worden. Er wird auch weiterhin einen eigenen Politikbereich im Binnenmarkt darstellen, der jedoch nicht mehr auf einer ungebremsten freien Marktwirtschaft basieren wird, sondern nunmehr auf dem Grundsatz der „sozialen Marktwirtschaft“.