Die Seele der EU
Artikel von Helmuth Markov zu den Zielstellungen der deutschen Ratspräsidentschaft für die Zeitschrift „Wirtschaft und Markt“
Alle halbe Jahre wieder übernimmt ein anderer EU-Mitgliedstaat die Ratspräsidentschaft der EU. Nach Finnland ist nun vom 1. Januar bis 30. Juni 2007 Deutschland an der Reihe. Natürlich ist ein halbes Jahr schnell wieder vorbei und ein solcher Wechsel bedeutet keineswegs, dass nun alles anders oder wenigstens besser wird. Aber jede Regierung sieht in einem Ratsvorsitz eine große Herausforderung und versucht, Schwerpunkte zu setzen. Im ersten Halbjahr 1999, als Deutschland ebenfalls präsidierte, war es die Verabschiedung der finanziellen Vorrauschau für 2000 bis 2006. Vergleichsweise erfolgreich, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie dann sieben Jahre später Großbritannien und Frankreich die EU-Finanzplanung für 2007 bis 2013 fast unmöglich gemacht haben. Erstere wollten partout nicht auf den so genannten Briten-Rabatt verzichten, der garantiert, dass das Vereinigte Königreich im Verhältnis weniger zum EU-Haushalt beiträgt als alle anderen Mitgliedstaaten. Frankreich bestand auf die gewohnten Agrarsubventionen, obwohl die bisherige gemeinsame Landwirtschaftspolitik einfach nicht mehr den Notwendigkeiten entspricht. Deutschland wiederum wollte es sich mit keinem verderben, hatte es doch gerade aushandeln können, dass es die Arbeitnehmerfreizügigkeit – eigentlich eines der wichtigsten Grundprinzipien der EU – für Menschen aus den neuen Mitgliedstaaten auch weiterhin sehr, sehr selektiv umsetzen darf. Was für ein Ringtausch.
Erinnerungswürdig sind wenige Ratspräsidentschaften, Italien war einst stolz darauf, 276 europäische Regelungen zum Abschluss geführt zu haben. Quantitativ eine gute Bilanz, aber was sagt das über Qualität aus? Als ‚wichtig‘ gelten solche Präsidentschaften, die langfristige politische Perspektiven und Orientierungen entwickeln konnten: Schweden hat 2001 mit der Einführung des Prinzips, dass jeder Legislativvorschlag zunächst auf seine ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen zu prüfen ist, ein Umdenken eingeleitet, das sich zwar langsam, aber immerhin durchsetzt. Portugal hat im Jahr 2000 den Namen seiner Hauptstadt ein für allemal zum EU-Schlagwort gemacht, indem mit der Lissabon-Strategie wichtige sozioökonomische Herausforderungen dauerhaft auf die politische Tagesordnung gesetzt wurden.
Die Rede, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17. Januar 2007 dem Europaparlament in Straßburg ihre Vorstellungen zur deutschen Ratspräsidentschaft darlegte, war ein durchaus bemerkenswerter Versuch, sich philosophisch ausführlich der Frage „Was ist die Seele Europas?“ zu widmen. Zustimmung verdient ihr Ansatz, darauf mit dem sich auf Lessings Ringparabel beziehenden Begriff Toleranz zu antworten. Zu erwarten gewesen wären dann allerdings einige kritische Äußerungen zur Abschottungspolitik der EU gegenüber Migranten, eine deutliche Ablehnung militärischer Mittel zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen sowie die eindeutige Schlussfolgerung, dass es eine funktionierende Gesellschaft nur geben kann, wenn darin die Starken den Schwachen helfen. Wobei sich ein solches Solidaritätsverständnis auch in der Forderung nach veränderter, gerechterer Aufteilung der EU-Strukturfondmittel äußern würde. Diese Vorfreude wurde leider sofort wieder getrübt. Offensichtlich interpretiert Frau Merkel den Begriff Toleranz so, dass sie sich kein kritisches Wort zur Haltung europäischer Politik zum Unilateralismus der USA, deren Kriegen, deren Ablehnung und Missachtung internationaler Verträge erlaubt. Fraglich bleibt auch, wie sie vom sozialen Fortschritt sprechen kann, ohne neue Ideen zu entwickeln, wie die Arbeitslosigkeit in Europa minimiert werden kann, welche Vorraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen von ihrem Arbeitseinkommen leben können, wie untere Einkommensklassen steuerlich entlastet und wie solidarische Sozialsysteme aufrechterhalten werden können, ohne immer teurer zu werden oder Leistungen abzubauen.
Die Wirtschaftspolitik der EU
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der deutschen Ratspräsidentschaft richtet sich ganz an den drei Hauptlinien der Lissabon-Strategie aus: Ausweitung des Binnenmarktes, die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit und Innovationskraft der europäischen Unternehmen und die externe Wettbewerbsfähigkeit der EU. An diesen Zielen, so sie denn die sozialen Komponenten mitdenken, ist zunächst nichts Falsches. Aber in der Realität zeigt uns die Halbzeitbilanz des Lissabon-Prozesses, dass der Anteil der Armen in der EU heute bei 16 % liegt, dass die Langzeitarbeitslosigkeit auf 4,1 % angewachsen ist und sich die Beschäftigungsquote nur geringfügig auf 64 % gesteigert hat. Frau Merkel hat in ihrer Rede im Europaparlament mit Begeisterung von Talenten und wissenschaftlich-technischem Fortschritt gesprochen, nicht aber davon, wie der universelle Zugang zu Bildung, Ausbildung und Technologie garantiert werden kann, um Talente individuell und gesellschaftlich nutzbar zu machen. Das Problem ist, dass die konkrete Politik darauf hinausläuft, sich zunehmend selbst ihrer Einflussmöglichkeiten bei der Gestaltung der Volks- und Weltwirtschaft zu berauben.
Dieser Kurs wird nicht nur für den Binnenmarkt, sondern auch in der Außenhandelspolitik verfolgt, in der die EU-Kommission die Verhandlungsführung für alle Mitgliedstaaten übernimmt. Man muss ernsthaft die Frage stellen, ob die Bürger der EU und in den Partnerländern einverstanden sind mit den Inhalten der Verhandlungen in der Welthandelsorganisation, zur Liberalisierung von Dienstleistungsmärkten, zur Patentierung geistigen Eigentums, über Freihandelszonen. Niemand wird sich gegen gute Handelsbeziehungen aussprechen oder gegen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die diesen Namen verdienen. Der bolivianische Präsident Evo Morales hat am 30. Januar 2007 in einem Brief an die europäischen Regierungschefs erläutert, was man sich darunter vorstellen kann: Multilaterale Wirtschaftsverträge müssen die asymmetrische Entwicklung aller Partnerländer berücksichtigen, indem sie differenzierte Behandlung vorsehen, angepasst an die jeweiligen Erfordernisse einer jeden Volkswirtschaft. Durch internationale Verhandlungen und Abkommen darf kein Druck auf die politische Ausgestaltung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Sphäre entstehen. Das heißt insbesondere, dass Forderungen nach Privatisierung und Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge nichts in solchen Verträgen zu suchen haben. Deren Ziel muss darin bestehen, menschenwürdige Lebensverhältnisse zu schaffen und aufrechtzuerhalten, was den Erhalt gesunder Umwelt unbedingt einschließt, statt der Logik maximaler Produktions- und v. a. Gewinnsteigerung zu folgen. Es geht um neue ökonomische Beziehungen zwischen den Weltregionen auf der Basis von Solidarität und Komplementarität, nicht um globale Liberalisierung. Es wäre durchaus spannend, Frau Merkels Antwortschreiben auf diesen Brief zu lesen. Von der aktuellen EU-Ratspräsidentin und gleichzeitig G8-Vorsitzenden und damit zeitweilig mächtigsten Frau der Welt ist ein solches ja sicherlich zu erwarten. Neugierig darf man auch sein, wie sie das selbstgesteckte Ziel, die Doha-Verhandlungen wieder in Gang und zum Abschluss zu bringen, angehen wird. Denn dieses Ziel und das Setzen auf multilaterale Übereinkommen ist richtig, nur werden sich kaum Verhandlungsfortschritte einstellen, wenn weiterhin der Weg zu einer globalen Freihandelszone verfolgt wird. Es sollte bei der Ausgestaltung langfristiger Partnerschaftsabkommen ebenfalls berücksichtigt werden, dass der Zugang zu auswärtigen Märkten für europäische KMU, die ja durchaus mit ihren Erfahrungen zur regionalen Entwicklung beitragen können, weit komplizierter ist als für transnationale Großkonzerne.
Der Verfassungsvertrag der EU
Ein weiteres hehres Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft ist es, bis zu ihrem Abschluss einen Fahrplan für eine europäische Verfassung vorzulegen. Frau Merkel befindet bereits jetzt, dass die Phase des Nachdenkens, die nach dem Non und Nee im französischen und im niederländischen EU-Verfassungsreferendum ausgerufen worden war, vorbei sei. So recht erkennbar ist ein solches Nachdenken allerdings nicht wirklich geworden. Es besteht kein Zweifel, dass der aktuell gültige Vertrag von Nizza nicht als zukunftsfähige Basis für das Zusammenwirken von 27 Staaten ausreicht. Aber die EU-Bürger werden sich nicht von einem Vertrag überzeugen lassen, der z. B. eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb statt Sozialstaatsprinzipien festschreibt. Sie sehen, dass Politik, die bereits jetzt weitgehend diesem Prinzip folgt, in immer stärker werdendem Druck auf Beschäftigte, in Verlagerung von Produktionsstandorten und Senkung der Reallöhne resultiert, während gleichzeitig die 30 größten europäischen Unternehmen ihre Gewinne in den vergangenen 15 Jahren auf 150 % steigern konnten. Es bleibt unverständlich, dass die EU mit battlegroups und Eurofighter aufrüstet, während Menschen auf der ganzen Welt gegen Kriege auf die Straße gehen. Niemand wird verstehen, wie es funktionieren soll, Klimaschutz und Energieversorgungssicherheit als zentrale Herausforderungen zu behandeln und sich gleichzeitig auf so altmodische Optionen wie die vollständige Liberalisierung der Energiemärkte oder auf noch mehr internationale Gas- und Öllieferverträge zu konzentrieren. Dabei kann man sogar in dem Bundesland, in dem die Bundeskanzlerin ihren Wahlkreis hat, in Mecklenburg-Vorpommern, sehen, wie bereits jetzt über 30 % der des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien erzeugt werden kann. Auch hier gilt: Dass der Verfassungsvertrag die Förderung erneuerbarer Energien und Energieeinsparung als Teilziele einer EU-Energiepolitik mit auflistet, ist wärmstens zu begrüßen. Nur ist kein Ziel glaubwürdig, das in der Realität halbherzig behandelt wird und dem politisches Handeln in anderen Bereichen sogar entgegensteht. Solange die jeden Tag erlebbaren Folgen politischer Grundlinien für die Menschen in Europa nicht die Hoffnungen erfüllen, die sie in die EU legen, werden sie keinem Verfassungsvertrag zustimmen, der genau dieses ‚Gewohnheitsrecht‘ festschreibt.
Insofern könnte die deutsche Ratspräsidentschaft durchaus bleibenden Eindruck hinterlassen, wenn sie eine strategische Ausrichtung der politischen Union vorantreiben würde, die auf wirtschaftliche, friedliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit verpflichtet ist, unterschiedliche kulturelle und religiöse Bedürfnisse achtet. Frau Merkel hat in ihrer Rede die Entwicklung der EU – vielleicht aufgrund ihrer DDR-Sozialisation sogar bewusst – mit dem These-Antithese-Synthese- Grundgedanken marxscher und hegelscher Theorie beschrieben sowie im Sinne Rosa Luxemburgs von der Freiheit als Freiheit des Anderen gesprochen. Wünschen wir, dass sie beides in ihrem jetzigen Amt beherzigt.