Stimmenthaltung trotz Würdigung der Grundrechte-Charta

Erklärung der Europaabgeordneten Gabi Zimmer zur Billigung der Grundrechte-Charta durch das Europäische Parlament.

Erklärung der Europaabgeordneten Gabi Zimmer zur Billigung der Grundrechte-Charta durch das Europäische Parlament am 29. November 2007 in Brüssel.

Trotz Würdigung der Grundrechte-Charta habe ich mich in der Abstimmung des Europäischen Parlaments meiner Stimme enthalten, weil die Defizite der Charta nicht abgebaut wurden, sondern gewachsen sind und sie mit einem EU-Reformvertrag verknüpft wird, dessen Entwurf ich nicht zustimme.

Sieben Jahre waren Zeit, um den tragfähigen Entwurf der Grundrechte-Charta mit den Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren, zu qualifizieren und nachzubessern. „Tragfähig“, weil der Text unverzichtbare Aussagen beinhaltet, individuelle Freiheitsrechte, soziale und politische Grundrechte untrennbar miteinander verbindet. Leider wurde die Zeit nicht entsprechend genutzt, weshalb Defizite und Unzulänglichkeiten gewachsen sind. Zugleich haben sich aufgezeigte Gefahren für demokratische und soziale Entwicklungen deutlich bestätigt.

So wie eine Grundrechte-Charta immer dringlicher wurde, wurde die vorliegende immer problematischer. Vor allem, weil sie nunmehr nur noch mit einem EU-Reformvertrag zu haben ist, dem ich nicht zustimmen kann und will.

Vor sieben Jahren hat die damalige PDS den vorliegenden Entwurf einer Europäischen Charta der Grundrechte begrüßt und besonders wichtige Aussagen gewürdigt. Schließlich war es mit der Charta erstmals gelungen, sich dem untrennbaren und integralen Zusammenhang zwischen den individuellen Freiheitsrechten und den sozialen Grundrechten zu stellen.
Dennoch hatten wir aus guten Gründen Unzulänglichkeiten aufgezeigt und konkrete Kritik geübt. Wir haben Nachbesserungen am Text, seine breite Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern und ein europaweites Referendum über die Annahme der Grundrechte-Charta gefordert. Nach einem positiven Entscheid sollte sie in die EU-Verträge aufgenommen und rechtsverbindlich werden. Damit würden die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, ihre Rechte gegebenenfalls einzuklagen.

Seit dieser Zeit ist zwar Vieles – auch und insbesondere recht Problematisches – geschehen, was den Alltag der Bürgerinnen und Bürger betrifft, aber wenig in Sachen Grundrechte-Charta. Und schon gar nicht ist geschehen, was unseren Forderungen aus dem Jahre 2000 entsprach. Dabei haben die vergangenen Jahre gezeigt, wie richtig die Verweise auf Unzulänglichkeiten, Defizite und Gefahren waren.

Nach wie vor halte auch ich es für notwendig, dass die sozialen Grundrechte und die individuellen Freiheitsrechte rechtsverbindlich und direkt einklagbar gestaltet werden. Nur so kann ein transparenter und umfassender Grundrechteschutz der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden.
Dennoch gibt es keinerlei Grund, auf seit langem geäußerte Kritik zu verzichten, denn bestimmte Grundrechte der Charta wie z. B. die Bestimmungen zum Kommunalwahlrecht (Artikel 40) oder das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt (Artikel 45) gelten nicht für die in der Europäischen Union lebenden „Nicht-EU-Bürgerinnen und -bürger“.

Besonders bedauerlich ist, dass es sowohl in den Jahren 1999 und 2000 als auch in der Folgezeit nicht gelungen ist, die sozialen Rechte klarer herauszuarbeiten. Sowohl die Europäische Sozialcharta als auch die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte finden in entscheidenden Punkten nur ungenügend Niederschlag.
Fundamentale Grundrechte, wie das „Recht auf Arbeit“ (Artikel 1) und das „Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt“ (Artikel 4), so wie sie in der von 15 Mitgliedstaaten unterzeichneten Europäischen Sozialcharta von 1961 enthalten sind, sind in der Grundrechte-Charta nicht berücksichtigt. Auch die Untergrenze des sozialen Schutzniveaus, wie sie der Artikel 53 der Sozialcharta ausdrücklich vorsieht, findet in der Grundrechte-Charta keine Erwähnung.

Die PDS bzw. die Linkspartei.PDS und die DIE LINKE. hatten immer wieder die Forderungen von Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Bewegungen in Europa nach einer weiteren Ausgestaltung der Charta im Hinblick auf die individuelle Einklagbarkeit aller individuellen Freiheitsrechte und sozialen Grundrechte vor dem Europäischen Gerichtshof unterstützt.
Insbesondere das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, Aus- und Weiterbildung, das Recht auf soziale Sicherheit, auf menschenwürdiges Wohnen und das Recht auf Schutz der Gesundheit müssen in eine zeitgemäße Grundrechte-Charta aufgenommen bzw. als individuell einklagbare Grundrechte formuliert werden.
Von grundsätzlicher Bedeutung für die Ausgestaltung der europäischen Sozialunion ist die Aufnahme des Rechts auf einen Existenz sichernden Mindestlohn bzw. eine individuelle Existenz sichernde Grundsicherung.

Trotz aller Kritik enthält der Text ein „Recht auf unternehmerische Freiheit“ (Artikel 16). Es hat, auch bei Einschränkung nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine hohe Bedeutung. Allerdings ist dieses Recht weder als Individualrecht verankert, noch finden juristische Personen Erwähnung, die „unternehmerische Freiheit“ in Anspruch nehmen könnten. Damit wird ein neoliberaler politischer Wille befördert, wie er im Teil III des EU-Reformvertrages zum Ausdruck kommt.

Das unterstreicht umso mehr, warum der Artikel 28 „Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen“ mit seiner Regelung des Streikrechts zwar nach wie vor zu begrüßen ist, aber mit der Forderung nach einem vertragsrechtlich garantierten EU-weitem Streikrecht der verbunden werden muss.

Die Grundrechte-Charta enthält in Artikel 52 die Möglichkeit, den Grundrechteschutz im Einzelfall hinter „dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ zurücktreten zu lassen. Obwohl zugleich festgehalten wird, dass die Grundrechte in ihrem Wesensgehalt nicht verändert werden dürfen, bietet diese Formulierung eine sehr weitgehende Ermächtigung, im
Ernstfall Grundrechte zur Disposition staatlicher Gewalt zu stellen. Die jüngsten Erfahrungen bestätigen entsprechende Befürchtungen.

Ich betone im Einzelnen

– die grundsätzliche Bedeutung des Wortlautes des Artikels 1.
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen wird geschützt. Angesichts zahlreicher rassistischer Übergriffe in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten ist dies ein deutliches Zeichen für die hohe Verantwortung staatlicher Gewalt für den Schutz der „Unantastbarkeit der Würde des Menschen“.

– das Recht auf Unversehrtheit in Artikel 3.
Die Festlegungen schränken die Möglichkeiten des Missbrauchs von Ergebnissen moderner Gen- und biologischer Forschung ein und stellen einen hohen Grundrechte-Standard dar. Dennoch bedauere ich, dass nicht ein absolutes Klonverbot ausgesprochen wird, sondern lediglich ein „Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen“. Die Erweiterung des Verbotes des reproduktiven Klonens von Menschen durch die Aufnahme eines absoluten Klonverbotes ist unverzichtbar.

– den Schutz personenbezogener Daten in Artikel 8.
Ein beachtlicher Fortschritt wurde dadurch erreicht, dass nicht nur der Schutz der personenbezogenen Daten aufgenommen wurde, sondern auch ein Recht auf Auskunft und Berichtigung der erhobenen Daten.

– das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen in Artikel 9.
Da der Bezug auf Personen unterschiedlichen Geschlechts entfällt, bleibt Raum für einzelstaatliche Regelungen, die z. B. das Leben von gleichgeschlechtlichen Partnern/Partnerinnen in Ehen oder eheähnlichen Rechtsverhältnissen betreffen.

– das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Artikel 10.
Das Recht auf Kriegdienstverweigerung wird lediglich nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln. Angesichts des Aufbaus einer „EU-Armee“ kommt diesem Artikel grundsätzliche Bedeutung zu.

– die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Artikel 11.
Allerdings bedauere ich die schwache Ausgestaltung der Medienfreiheit, deren Pluralität durch Konzentrationsprozesse bedroht ist. Gerade in diesem Bereich ist eine zusätzliche Verlagerung von Kompetenzen auf die Europäische Ebene hinnehmbar, wenn dadurch die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger wirkungsvoller geschützt werden.

– das Recht auf Bildung in Artikel 14.
Das Recht auf Bildung ist ein umfassendes Recht. Es darf nicht einseitig auf den beruflichen Bereich verengt werden. Es muss in Absatz 1 um das Recht auf Zugang zu allgemeiner, politischer und kultureller Aus- und Weiterbildung gehen.

– das Asylrecht in Artikel 18.
Diese Formulierung des Asylrechts ist nicht ausreichend. Das Asylrecht muss auch in der Europäischen Union als Individualrecht auf Asyl gewährleistet werden. Die Gewährleistungspflicht nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist unzulänglich und trägt der Situation in der Welt nicht ausreichend Rechnung. Desertion und Kriegsdienstverweigerung sowie frauenspezifische Fluchtgründe müssen als Asylgründe anerkannt werden.

– den speziellen Nichtdiskriminierungs-Artikel 21.
Er geht mit der Aufnahme des Diskriminierungsverbots aufgrund des Vermögens oder wegen der sexuellen Orientierung über bisherige Regelungen hinaus.

– die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen in Artikel 22.
Auch ich begrüße die Festlegung zur Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, sowie die Festlegung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Artikel 13.
Leider ist das Recht auf Kultur (analog zum Recht auf Bildung) nicht aufgenommen wurde und auch keine verbindliche Festlegung zur Förderung von Kultur enthalten.

– das explizite Gleichstellungsgebot von Männern und Frauen des Artikels 23.
Es umfasst ausdrücklich alle Lebens- und Arbeitsbereiche, womit über bisherige Regelungen hinausgegangen wurde.

– die Gewährleistung des Streikrechts in Artikel 28.
Ich begrüße die Aufnahme des Streikrechts als elementares soziales Grund- und Menschenrecht. Problematisch ist, dass ein europaweites Streikrecht der Gewerkschaften nicht ausdrücklich hervorgehoben wird.

Meine Kritiken hinsichtlich der ausgebliebenen, breiten, öffentlichen Debatte über die Grundrechte-Charta mit den Bürgerinnen und Bürgern der EU, zum nicht Statt gefundenen Referendum, zu den fehlenden dringlichen Nachbesserungen, den Einschränkungen ihrer Geltung für Großbritannien und Polen werden durch die Erklärung der Rechtsverbindlichkeit der Charta im Text des Reformvertrags nicht aufgehoben. Hinzu kommt, dass in der Erwägung A und in Artikel 2 des Leinen-Berichts eine Verknüpfung mit der Zustimmung zum Reformvertrag vorgenommen wird.
Ich habe mich deshalb entschlossen, mich bei der Abstimmung zum „Bericht über die Billigung der Charta der Grundrechte durch das Europäischen Parlament“ der Stimme zu enthalten.