Thesen zum Seminar mit den europapolitischen Sprecher/innen am 4. Oktober 2007 in Brüssel

von Sylvia-Yvonne Kaufmann und Jens Wolfram

Sylvia-Yvonne Kaufmann/Jens Wolfram 10.10.2007

Information zum
Entwurf des Reformvertrages vom 5.10.2007
(CIG 1/1/07 REV 1, CIG 2/1/07 REV 1 und CIG 3/1/07 REV 1)

– Zur Grundrechtecharta –

I. Zum rechtlichen Status

1. Im Juni 1999 beschloss der Europäische Rat die Einberufung eines spe-ziellen Gremiums zur Ausarbeitung einer Grundrechtecharta der Europäi-schen Union. Der Konvent unter Leitung des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog nahm im Dezember 1999 seine Arbeit auf. Am 2.10.2000 wurde der Charta-Entwurf vom Grundrechtekonvent verabschiedet.
Ursprünglich sollte die Charta in den Vertrag von Nizza aufgenommen werden und dadurch dieselbe Rechtsverbindlichkeit erhalten wie die Ver-träge, auf denen die Union beruht. Dies scheiterte am Veto der britischen Regierung. Am 7. Dezember 2000 wurde die Charta in Nizza vom Euro-päischen Rat feierlich proklamiert. Sie stellt damit unverbindliches Sekun-därrecht dar.

2. Im Dezember 2001 beschloss der Europäische Rat die Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas unter Leitung des ehemaligen französi-schen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Dem Konvent oblag die Aufgabe der Beantwortung von 64 Fragen zur Zukunft der Europäi-schen Union, die in der „Erklärung von Laeken“ formuliert worden waren. Eine dieser Fragen enthielt unter anderem den Auftrag zu prüfen, „ob die Charta der Grundrechte in den Basisvertrag aufgenommen werden soll“.
Der Verfassungskonvent entschied sich, die Antworten auf die Fragen von Laeken in den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Eu-ropa einzuarbeiten. Dieser Vertrag sollte die bisherigen Verträge, auf de-nen die Union beruht, ersetzen und die Europäische Union neu gründen. Die Grundrechtecharta sollte dabei den Teil II des Verfassungsvertrages bilden und so dieselbe Rechtsverbindlichkeit erhalten wie die übrigen Be-stimmungen des Verfassungsvertrages. Inhaltlich hatte der Verfassungs-konvent das Ergebnis des Grundrechtekonvents mit einigen Änderungen übernommen. Am 10. Juli 2003 wurde der Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vom Verfassungskonvent verabschiedet.
Die Regierungskonferenz 2004 übernahm den Vorschlag eines Verfas-sungsvertrages mit der Grundrechtecharta als dessen Teil II; erneut wur-den dabei einige Änderungen an der Charta vorgenommen. Am 29.10.2004 wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa von den Staats- und Regierungschefs in Rom unterzeichnet. Der Vertrag wurde anschließend von 18 der 27 Mitgliedstaaten ratifiziert. In Frankreich und den Niederlanden wurde die Ratifikation jeweils in einem Referendum ab-gelehnt.

3. Anders als der Verfassungsvertrag wird der Reformvertrag die Grundrechtecharta als solche nicht enthalten. Stattdessen soll die Grundrechtecharta in der Fassung von 2004 vom Europäischen Parla-ment, dem Rat und der Kommission noch vor der Unterzeichnung des Reformvertrages feierlich proklamiert werden. Zudem ist folgende Einfü-gung in den EU-Vertrag als Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 vorgesehen:
„Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte vom 7. Dezember 2000 in der am [ 2007] ange-passten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte hat diesel-be Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge.“
Durch den Reformvertrag wird die Grundrechtecharta somit zum verbind-lichen Primärrecht mit individuell einklagbaren Rechten.

4. In die Schlussakte zur Regierungskonferenz soll darüber hinaus eine Er-klärung Nr. 29 zur Charta der Grundrechte aufgenommen werden. Darin wird nochmals bestätigt, dass die Charta rechtsverbindlich sein wird und dass in der Charta die Grundrechte aus der Europäischen Menschen-rechtskonvention und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bekräftigt werden – ein Verweis auf die beiden Haupter-kenntnisquellen bei der Ausarbeitung der Grundrechtecharta.
Zudem wird in der Erklärung nochmals betont, dass die Grundrechtechar-ta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht ausdehnt und weder neue Zuständigkeiten oder Aufgaben begründet, noch bestehende Zuständig-keiten oder Aufgaben ändert – eine wörtliche Wiederholung des Artikels 52 Absatz 2 der Grundrechtecharta, die von den drei europäischen Insti-tutionen proklamiert und aufgrund des vorgesehenen Verweises im Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 des EU-Vertrages verbindliches Primärrecht werden wird. Dies soll nach dem Entwurf des Reformvertrages ergänzt werden durch einen neuen Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 2 des EU-Vertrags:
„Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festge-legten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert.“

5. Eine Erklärung der Regierungskonferenz „zur Proklamation der Charta der Grundrechte durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission“, wie sie nach den Erklärungsentwürfen vom 23.7.2007 vor-gesehen war, ist in den Erklärungsentwürfen vom 5.10.2007 nicht enthal-ten. Rechtlich macht dies keinen Unterschied.

II. Zu den Erläuterungen

6. Das Präsidium des Grundrechtekonvents hatte Erläuterungen zum end-gültigen Textentwurf der Grundrechtecharta formuliert. Die Erläuterungen selbst waren kein Bestandteil der Charta. Einleitend heißt es darin: „Die vorliegenden Erläuterungen sind vom Präsidium in eigener Verantwortung formuliert worden. Sie haben keine Rechtswirkung, sondern dienen ledig-lich dazu, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.“

7. Das Präsidium des Verfassungskonvents hatte die Erläuterungen überar-beitet. Irgendeine Änderung des Rechtstatus der Erläuterungen war damit nicht verbunden.

8. Auf der Regierungskonferenz 2004 wurden die Erläuterungen zur Grundrechtecharta erneut überarbeitet und als Erklärung Nr. 12 in die Schlussakte dieser Regierungskonferenz aufgenommen. Die Erläuterun-gen selbst waren kein Bestandteil des Verfassungsvertrages. Als eine an-lässlich des Vertragsabschlusses abgegebene Erklärung, stellten die Er-läuterungen jedoch völkerrechtlich eine ergänzende Interpretationshilfe dar bei der Auslegung und Anwendung der Chartabestimmungen. Dem-entsprechend heißt es einleitend darin:
„Diese Erläuterungen haben als solche keinen rechtlichen Status, stellen je-doch ein nützliches Interpretationswerkzeug dar, das dazu dient, die Be-stimmungen der Charta zu verdeutlichen.“

9. Auf britischen Wunsch wurde auch in den Verfassungsvertrag eine Dar-stellung dieser Rechtslage aufgenommen. Artikel II-112 Absatz 7 lautet:
„Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“

10. Die Bestimmung über die gebührende Berücksichtigung der Erläuterun-gen als Anleitung für die Auslegung der Grundrechtecharta wird sich wortgleich als Artikel 52 Absatz 7 auch in der Grundrechtecharta wieder finden, die von den drei europäischen Institutionen proklamiert und auf-grund des vorgesehenen Verweises im Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 des EU-Vertrages verbindliches Primärrecht werden wird. Dies soll nach dem Entwurf des Reformvertrages ergänzt werden durch einen neuen Ar-tikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 3 des EU-Vertrags:
„Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze wer-den gemäß den allgemeinen Bestimmungen von Titel VII der Charta, in dem ihre Auslegung und Anwendung geregelt wird, und unter gebührender Be-achtung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“

11. Eine Erklärung der Regierungskonferenz „betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“, wie sie nach den Erklärungsentwürfen vom 23.7.2007 vorgesehen war, ist in den Erklärungsentwürfen vom 5.10.2007 nicht enthalten. Rechtlich macht dies keinen Unterschied.

III. Zum britischen und polnischen „Grundrechts-Rabatt“

12. Nach dem Vertragsentwurf wird den Verträgen, auf denen die Union be-ruht, ein Protokoll Nr. 7 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich beigefügt. Anders als Erklärun-gen sind Protokolle Bestandteile der Verträge und haben damit dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie sie. Brisant ist insbesondere der Artikel 1 des Protokolls:
„1. Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zur Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Gepflogenheiten oder das Handeln des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta be-kräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen.
2. Insbesondere – und um Zweifel auszuräumen – werden mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagba-ren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat.“

13. Dreierlei lässt sich dieser Bestimmung entnehmen:
1. Die Grundrechtecharta wird auch in und für Polen sowie im und für das Vereinigte Königreich gelten!
2. Die gerichtliche Durchsetzung der Einhaltung der Grundrechtecharta gegenüber diesen Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof o-der nationalen Gerichten dieser beiden Mitgliedstaaten wird ausgeschlos-sen sein, es sei denn, Polen bzw. das Vereinigte Königreich hat solche Rechte auch in seinem nationalen Recht vorgesehen.
3. Dieser Ausschluss wird nicht nur Polen und Briten betreffen, sondern alle Menschen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit.

14. Diese Protokollbestimmung wird allgemein vor allem als britisches bzw. polnisches „Opt-out von der Charta“ bezeichnet. Zu beachten ist jedoch, dass es sich nicht um eine klassische Opt-out-Lösung handelt, wonach dem Mitgliedstaat die Option belassen wird, einseitig die Geltung für sich auszuschließen. Polen und das Vereinigte Königreich werden stattdessen sofort „out“ sein und zwar aufgrund einer Übereinkunft, die zwischen allen 27 Mitgliedstaten abgeschlossen werden wird. Zudem ist es kein „Out von der Charta“, sondern vielmehr von deren Durchsetzbarkeit vor europäi-schen oder britischen bzw. polnischen Gerichten.

15. Gerade Letzteres hat eine ziemlich perfide Nebenwirkung: Die unge-schriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, die bisher die Hauptquelle des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft ausmachen, kommen gegenüber dem geschriebenen Recht (zum Beispiel der Charta) nur subsidiär zur Anwendung. Da die Grundrechtecharta auch für Polen und das Vereinigte Königreich gelten, sind alle ungeschriebenen allge-meinen Rechtsgrundsätze insoweit gesperrt. Somit reduziert sich der ge-richtlich einklagbare europäische Grundrechtsschutz gegenüber Polen und dem Vereinigten Königreich auf die Rechte aus der EMRK sowie auf solche Chartarechte, die bereits im polnischen bzw. britischen Recht als nationale Rechte existieren, sowie auf solche ungeschriebenen allgemei-nen Rechtsgrundsätze, die keine Aufnahme in die Charta gefunden ha-ben (Die britische Regierung ließ verlauten, das sei immer noch ziemlich viel…).

16. Trotz des scheinbaren Gleichlaufs von polnischem und britischem Grund-rechts-Rabatt, bestehen deutliche Unterschiede in der Zweckrichtung bei-der Regierungen. Die britische Regierung bezweckt insbesondere den Ausschluss der gerichtlichen Durchsetzbarkeit von sozialen Grundrech-ten. Der polnischen Regierung, die sich dem aus britischer Feder stam-menden Protokoll angeschlossen hat, geht es dagegen insbesondere um von ihr befürchtete „negative“ Einflüsse der Grundrechtecharta auf die na-tionale Rechtsetzung „in den Bereichen der öffentlichen Sittlichkeit, des Familienrechts sowie des Schutzes der Menschenwürde und der Achtung der körperlichen und moralischen Unversehrtheit“. Polen wird deshalb voraussichtlich der Schlussakte eine formale Erklärung Nr. 51 beifügen, wonach die Charta in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten berüh-ren werde, in diesen Bereichen Recht zu setzen. Und in einer weiteren formalen Erklärung Nr. 53 wird die Republik Polen erklären, „dass sie in Anbetracht der Tradition der sozialen Bewegung der ‚Solidarność‘ und ih-res bedeutenden Beitrags zur Erkämpfung von Sozial- und Arbeitnehmer-rechten die im Recht der Europäischen Union niedergelegten Sozial- und Arbeitnehmerrechte und insbesondere die in Titel IV der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigten Sozial- und Arbeitneh-merrechte uneingeschränkt achtet.“

17. Verhandelt wird noch auf der Regierungskonferenz, ob man den beiden Staaten ein so genanntes „Opt-in“ einräumen sollte, damit sie die Mög-lichkeit haben, durch einseitige Erklärung die Wirkung des Protokolls für sich aufzuheben. Anderenfalls bedürfte die Aufhebung des britischen und polnischen „Grundrechts-Rabatts“ der Ratifikation durch alle 27 Mitglied-staaten – gegebenenfalls mit Referendum.

Sylvia-Yvonne Kaufmann/Jens Wolfram

Thesen zum Seminar mit den europapolitischen Sprecher/innen am
4. Oktober 2007 in Brüssel

B. Stichwort: Daseinsvorsorge
B. Stichwort: Daseinsvorsorge

1. Der EG-Vertrag enthält in Artikel 16 und Artikel 86 Regelungen, die unmit-telbar die Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten betreffen. In der Ver-tragsterminologie firmieren die Leistungen der Daseinsvorsorge unter der Bezeichnung „Dienste/Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“. Erfasst werden dabei ausschließlich wirtschaftliche Leistun-gen; nichtwirtschaftliche Leistungen werden bisher nicht erwähnt.

2. Diese beiden Bestimmungen haben insbesondere Bedeutung für das Spannungsverhältnis zwischen Daseinsvorsorge und Binnenmarkt. Der diesbezügliche Regelungszusammenhang des EG-Vertrages stellt sich wie folgt dar:
1. Grundsätzlich gelten die Binnenmarktbestimmungen, insbesondere die Dienstleistungsfreiheit und die Wettbewerbsregeln, für alle vom Vertrag erfassten Dienstleistungen.
2. Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen der Daseinsvorsorge be-traut sind, gelten die Binnenmarktbestimmungen nur, soweit die Anwen-dung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der den Unternehmen über-tragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert, es sei denn, der Binnenmarkt wird dadurch in einem Ausmaß beeinträchtigt, das den Interessen der Gemeinschaft zuwiderläuft (Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag).
3. Unbeschadet der Wettbewerbsregeln und in Anbetracht des Stellen-werts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Be-fugnisse im Anwendungsbereich des EG-Vertrags dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können (Artikel 16 EG-Vertrag).

3. Sollen also bestimmte Unternehmen, die mit wirtschaftlichen Leistungen der Daseinsvorsorge betraut sind, von den Binnenmarktregelungen (zum Beispiel dem Verbot staatlicher Beihilfen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen) ausgenommen werden, so bedarf dies einer gebührenden Abwägung mit den Interessen der Gemeinschaft und des Nachweises, dass der Binnenmarkt nicht in einem Ausmaß beein-trächtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Neben dem Interesse an einem funktionierenden Binnenmarkt steht da auch u. a. das Interesse an einer funktionierenden Daseinsvorsorge (Artikel 16 EG-Vertrag).

4. Der Vertrag belässt für diese Abwägung zunächst einen großen Spiel-raum verschiedenster rechtmäßiger Ergebnisse. Zugleich wird jedoch die Kommission ermächtigt, Konkretisierungen vorzunehmen. Diese Konkre-tisierungen sind für die Mitgliedstaaten bindend und engen deren Spiel-raum enorm ein.

5. Entsprechend ihrer politischen Zusammensetzung hat die Kommission in der Vergangenheit den Spielraum sehr wettbewerbsorientiert zu Lasten des Interesses an einer funktionierenden Daseinsvorsorge genutzt. Und sie hat diesen Weg so konsequent beschritten, dass sich weitläufig der Eindruck verfestigt hat, neoliberale Wettbewerbspolitik sei vertragsrecht-lich so zwingend, dass die Kommission gar nicht anders könnte. Dies ist jedoch keineswegs bereits vertragsrechtlich vorgeschrieben – sehr wohl aber vertragsrechtlich erlaubt, vor allem aber von den Akteuren politisch gewollt.

6. Der Reformvertrag könnte etwas Bewegung in diese Situation bringen, aus der sich Chancen für linke Politik ergeben. Er würde zum einen die soziale Seite des Abwägungsprozesses durch soziale Zielbestimmungen, die soziale Querschnittsklausel und soziale Grundrechte stärken. Zudem soll durch den Reformvertrag den Verträgen, auf denen die Union beruht, ein Protokoll Nr. 9 über die Dienste von allgemeinem Interesse beigefügt werden, das eine erhebliche Verschiebung der rechtlichen Gewichtung in zukünftigen Abwägungsprozessen zur Folge hätte:
„Zu den gemeinsamen Werten der Union in Bezug auf Dienste von allge-meinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne des Artikels [III-122] des Ver-trags über die Arbeitsweise der Union zählen insbesondere:
– die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allge-meinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nut-zer so gut wie möglich entsprechende Weise zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind;
– die Verschiedenartigkeit der jeweiligen Dienstleistungen von allgemei-nem wirtschaftlichem Interesse und die Unterschiede bei den Bedürf-nissen und Präferenzen der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografi-schen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können;
– ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte.“
Durch den Reformvertrag werden somit die Anerkennung der Vielfalt der Daseinsvorsorge und der vorrangigen Kompetenz der Mitgliedstaaten sowie grundsätzliche Prinzipien wie Qualität, Sicherheit, Bezahlbarkeit, und universeller Zugang im verbindlichen Primärrecht verankert. Zugleich wird ebenso verbindlich festgehalten, dass es sich hierbei um gemeinsa-me Werte der Union handelt, die von allen Mitgliedstaaten und von der Union selbst in ihrem gesamten Handeln zu beachten sind.

7. Durch den Reformvertrag soll außerdem eine neue Rechtsgrundlage ge-schaffen werden, durch die die Union ermächtigt wird, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Grundsätze und Bedingungen für das Funk-tionieren der Dienste von allgemeinem Interesse festzulegen. Damit wird die Kompetenz zur Ausgestaltung des Spannungsverhältnisses zwischen Daseinsvorsorge und Binnenmarkt von der Kommission auf die Ko-Gesetzgeber Europäisches Parlament und Rat verlagert.

8. Angesichts dieser Neuerungen im Reformvertrag eröffnen sich neue Spielräume zu einer Korrektur der bisherigen Politik in Bezug auf die Da-seinsvorsorge.

Sylvia-Yvonne Kaufmann/Jens Wolfram

Thesen zum Seminar mit den europapolitischen Sprecher/innen am
4. Oktober 2007 in Brüssel

C. Stichwort: Wettbewerb
C. Stichwort: Wettbewerb

I. Wettbewerbsfreiheit als europäischer Politikbereich

1. Gemäß Artikel 3 des EG-Vertrages umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft zur Förderung der im EG-Vertrag formulierten Zielsetzungen (Artikel 2) unter anderem „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“. Der Schutz des unverfälschten Wettbewerbs bildet einen eigenständigen Politikbereich der Europäischen Gemeinschaft. Unverfälschter Wettbewerb ist somit vertragsrechtlich kein Ziel oder Wert an sich, sondern ein Mittel zur Verwirklichung der in Artikel 2 EG-Vertrag genannten Ziele, unter denen er nicht aufgeführt ist.

2. Artikel 3 des EG-Vertrages stellt alle darin genannten Politikbereiche unter den Vorbehalt der Maßgabe des EG-Vertrages („nach Maßgabe dieses Vertrages“). Auch der Politikbereich in Bezug auf den Wettbewerb umfasst also nur das, was als solches im EG-Vertrag aufgeführt wird. Dementsprechend umfasst die Wettbewerbspolitik der Europäischen Gemeinschaft:
– das Kartellverbot und das Verbot des Missbrauchs einer den Markt beherrschenden Stellung einschließlich der Fusionskontrolle (Artikel 81 bis 85 EGV) sowie
– das Verbot von staatlichen Beihilfen, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen (Artikel 87 bis 89 EGV).

3. Wie in allen Politikbereichen auch darf die Gemeinschaft im Bereich der Wettbewerbspolitik die Gemeinschaft nur innerhalb der ihr zugewiesenen Befugnisse und der ihr im Vertrag gesetzten Ziele tätig werden (Artikel 5 EGV). (Diese Ziele ergeben sich insbesondere aus Artikel 2 EGV.) Freilich belässt jedes dieser Ziele noch immer einen großen Handlungsfreiraum und – soweit sie einander gegenläufig sind – natürlich einen Abwägungsfreiraum hinsichtlich des Ausgleichs zweier einander widersprechender Ziele. Das heißt: Die den politischen Entscheidungen im Bereich des Wettbewerbs gesetzten rechtlichen Grenzen sind somit weit gezogen. Die derzeit strikt neoliberal ausgerichtete Wettbewerbspolitik der Europäischen Gemeinschaft ist allerdings rechtlich keineswegs zwingend vorgegeben, sondern vielmehr Ergebnis der Verwirklichung eines bestimmten politischen Willens.

4. Voraussichtlich wird der Reformvertrag weder an der rechtlichen Grundkonzeption noch an den Bestimmungen zur Wettbewerbspolitik selbst kaum Wesentliches ändern. Allerdings: der Regelungskontext wird verändert.
Artikel 2 EGV (Aufzählung der Zielbestimmungen) und Artikel 3 EGV (Aufzählung der Politikbereiche) werden gestrichen. Stattdessen werden die Zielbestimmungen in Artikel 3 des EU-Vertrages neu formuliert. Darin wird es u. a. heißen: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt.“ Ergänzend dazu wird in einem Protokoll klargestellt, dass auch weiterhin „zu dem Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“ (Übernahme der Formulierung aus dem derzeitigen Artikel 3 EGV), und es wird vereinbart, dass die Union zu diesem Zweck erforderlichenfalls nach den Vertragsbestimmungen tätig wird.

5. Neu ist die Aufnahme umfangreicher sozialer Zielbestimmungen in Artikel 3 Absatz 3 EU-Vertrag, insbesondere des Grundsatzes der sozialen Marktwirtschaft, der sich nunmehr auch auf die Wettbewerbspolitik erstreckt. Damit wird der rechtliche Handlungsspielraum für die Wettbewerbspolitik verschoben und in sozialer Richtung ausgeweitet. Rechtlich verboten wird das Verfolgen einer neoliberalen Wettbewerbspolitik freilich nicht.
„Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.
Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“

6. Neu ist auch die Aufnahme einer sozialpolitischen Querschnittsklausel in Artikel 9 AEUV, an der sich jede einzelne wettbewerbspolitische Maßnahme künftig wird messen müssen. Sie bietet nicht nur Argumente für die politische Auseinandersetzung, sondern nennt Kriterien für eine etwaige Rechtswidrigkeit wettbewerbspolitischer Maßnahmen.
„Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“

7. Und letztlich werden auch die sozialen Grundrechte der Grundrechtecharta nicht ohne Auswirkungen auf den rechtlichen Spielraum für die Wettbewerbspolitik bleiben. Der Vorteil gegenüber sozialen Zielbestimmungen oder der Querschnittsklausel liegt vor allem in der individuellen Einklagbarkeit der Grundrechte.

II. Wettbewerb im Rahmen der Wirtschafts- und Währungspolitik

8. Zu den Tätigkeitsbereichen der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zählt gemäß Artikel 4 EGV – nach Maßgabe des EG-Vertrages – die Einführung einer Wirtschafts- und Währungspolitik. Diese basiert auf dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Artikel 4 Absatz 1 und 2, Artikel 98 und 105 EGV). Der hier verwendete Wettbewerbsbegriff umfasst nicht nur die Gegenstände der oben beschriebenen europäischen Wettbewerbspolitik. Er ist vielmehr in einem umfassenden Sinne zu interpretieren – vergleichbar dem Grundsatz des freien Wettbewerbs wie er aus der Berufs- und Eigentumsfreiheit des deutschen Grundgesetzes ableitet wird.

9. Die rein rechtliche Wirkung der Formulierung vom „freien Wettbewerb“ ist in diesem Zusammenhang (neben der „offenen Marktwirtschaft“) freilich nicht all zu groß. Der in diesen Bestimmungen angesprochene „freie Wettbewerb“ stellt einen Grundsatz dar (geltend für diese beiden Politikbereiche); jede Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit bedarf damit einer auf gemeinschaftlichen Allgemeininteressen gestützten Rechtfertigung. In diesem Sinne aber umfasst jede Marktwirtschaft (ob nun offen oder sozial) auch einen freien Wettbewerb. Auch eine Streichung der Worte „mit freiem Wettbewerb“ (bei Beibehaltung des Grundsatzes der offenen Marktwirtschaft) würde somit das rechtliche Koordinatensystem kaum verändern. Das Problem liegt hier vielmehr in der expliziten Verankerung des Grundsatzes der offenen Marktwirtschaft.

10. Der Reformvertrag wird an diesen Regelungen in Bezug auf den Wettbewerb vermutlich keine Änderungen vornehmen. Dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft, der in Artikel 3 Absatz 3 des EU-Vertrages eingefügt werden soll und dann grundsätzlich für alle Politikbereiche Geltung haben wird, wird allerdings für diese beiden Politikbereiche der Grundsatz der offenen Marktwirtschaft gegenübergestellt werden. Dies lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Schließen sich die Begriffe gegenseitig aus, so gilt für die europäische Wirtschafts- und Währungspolitik weiterhin nur der Grundsatz der offenen Marktwirtschaft; schließen sie sich nicht aus (weil sie unterschiedliche Facetten einer Marktwirtschaft beschreiben), so gelten für die europäische Wirtschafts- und Währungspolitik zukünftig beide Grundsätze. Beide Begriffe sind als Rechtsbegriffe bisher nicht definiert worden, und der politische Kampf um die Auslegung dieser Bestimmungen hat längst begonnen. Welche Position wird die Linke einnehmen?

11. Die neue sozialpolitische Querschnittsklausel sowie die Grundrechtecharta werden unabhängig davon in jedem Falle den rechtlichen Handlungsspielraum auch dieser beiden Politikbereiche beeinflussen. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ändert daran nichts. Wie alle anderen Institutionen ist auch sie an das Recht gebunden und kann gegebenenfalls wegen rechtswidriger Handlungen verklagt werden.