Wo bleibt die Sozialunion?

Artikel in: SO! Die Zeitung der Linken in Sachsen, Februar 2007

Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und 500 Millionen Menschen braucht eine klare soziale Ausrichtung und eine zukunftsfähige Verfassung: Sylvia-Yvonne Kaufmann zur deutschen Ratspräsidentschaft

Am 1. Januar 2007 übernahm Deutschland den Vorsitz in der Europäischen Union. Er ermöglicht es, Kurskorrekturen an der europäischen Politik vorzunehmen und in Europa die Weichen in eine zukunftsorientierte Richtung zu stellen. Das wäre auch bitter nötig, denn viele Menschen sehen die heutige EU als wirtschaftliche und soziale Bedrohung an. Während ihre einstige historische Rolle als Friedens- und europäisches Einigungsprojekt in den Hintergrund tritt, entpuppt sie sich als Liberalisierungs- und Deregulierungsgemeinschaft. Deshalb werden der weitere Verlust von Sozialleistungen, Stellenabbau sowie mehr Arbeitsplatzverlagerungen in EU-Länder mit niedrigen Lohnkosten befürchtet. Vor dem Hintergrund von 18,7 Millionen Arbeitslosen in Europa, von 72 Millionen Menschen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze sowie einer Kinderarmut von über 20 Prozent und gleichzeitig 2,5 Millionen Millionären sind diese Ängste verständlich.

Verantwortlich dafür ist die neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf grenzüberschreitendes Lohn-, Sozial- und Steuerdumping setzt. Die Sorgen und Nöte, die die Menschen tagtäglich umtreiben, spiegeln sich im 25-seitigen Programm der deutschen Präsidentschaft aber nicht adäquat wieder, obwohl dessen Grundlage das immerhin auf 18 Monate ausgerichtete Programm der drei aufeinander folgenden Präsidentschaften Deutschland, Portugal und Slowenien bildet. Es erinnert an einen Warenhauskatalog. Viele zentrale und durchaus wichtige Themen, wie eine gemeinsame Energiepolitik, Klimaschutz, Justiz und Inneres, Asyl- und Flüchtlingspolitik und vieles mehr werden zwar angesprochen, aber es fehlt eine überzeugende Prioritätensetzung.

Keine Verfassung ohne Stärkung der sozialen Dimension

Noch kürzlich hieß es, das „soziale Europa“ und die Überwindung der Krise um die EU-Verfassung stünden ganz oben auf der Agenda der deutschen Präsidentschaft. In der Tat gehört beides zusammen, denn das eine ist ohne das andere nicht zu haben: Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und 500 Millionen Menschen braucht eine klare soziale Ausrichtung und eine zukunftsfähige Verfassung. Doch der Aufgalopp der Großkoalitionäre währte nicht lange. Weder im Masterplan der Bundesregierung, noch in der Rede der Bundeskanzlerin zur Vorstellung des Präsidentschaftsprogramms vor dem Europaparlament findet sich das Projekt Sozialunion. Sie müsste die Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen, denn nur so können die soziale Dimension Europas und damit das „europäische Sozialmodell“ deutlich und vor allem nachhaltig gestärkt werden. Aber auch Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, mied in seiner Replik auf Angela Merkel den Begriff Sozialunion wie der Teufel das Weihwasser, obwohl er zutreffend anmerkte: „Die EU wird entweder die Sozialpolitik zu einem zentralen Element ihrer Politik machen, oder ihr Akzeptanzproblem wird größer“. Wenigstens machte er darauf aufmerksam, dass bei europäischen Gesetzgebungsvorhaben – wie dies im Übrigen auch in der Verfassung vorgesehen ist – künftig soziale Folgen wie zum Beispiel Beschäftigungseffekte systematisch abgeschätzt werden müssten.

Dass deutsche Politiker die Forderung nach Schaffung einer Sozialunion fallen lassen, ist auch deshalb peinlich, weil darüber bis heute in der europäischen Politik viel und heftig debattiert wird. So hat sich erst jüngst der konservative Ministerpräsident Luxemburgs Jean-Claude Juncker zu Wort gemeldet und zum wiederholten Mal die Bildung einer europäischen Sozialunion als „vordringlich wichtige“ Aufgabe bezeichnet – auch, um mit der Verfassung weiterzukommen. Er forderte einen „Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten“ und die Einführung eines „Grundeinkommens“ für alle Menschen in der EU. Die deutsche Ratspräsidentschaft, so Juncker, müsse „inhaltlich und nicht nur von der Melodie her“ daran arbeiten, ob „wir ein Europa der Arbeitnehmer, ein Europa der Solidarität“ wollen oder ob „wir weiter machen mit einem Europa, das den Eindruck erweckt, als ginge es die einfachen Menschen nichts mehr an.“

Klar ist: Unter den Zwängen der Globalisierung lässt sich der Sozialstaat nicht mehr allein national, sondern nur noch europäisch gestalten. Für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, für soziale Gerechtigkeit, für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse, für den Schutz bei Krankheit oder bei Verlust des Arbeitsplatzes müssen die Weichen deshalb gemeinsam, europäisch gestellt werden. Die Bürgerinnen und Bürger akzeptieren nur eine EU, die Wohlstand, Beschäftigung und eine lebenswerte Umwelt sichert. Dies zu erreichen, muss Priorität deutscher und europäischer Politik sein – und dafür ist ein neuer Gesellschaftsvertrag unabdingbar.

Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung gehören auf die Agenda

Besorgnis erregende Entwicklungen des vergangenen Jahres – wie das gigantische nukleare Umrüstungsprogramm der USA, der Atomtest Nordkoreas, Rüstungspläne in Japan oder das Hickhack um die atomaren Ambitionen Irans – verdeutlichen, dass die nukleare Bedrohung und in deren Folge das Wettrüsten dramatisch zunehmen. Vor daher sind konzertierte Aktionen im Rahmen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik das Gebot der Stunde, und zwar in Richtung Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle. Doch im deutschen Ratsprogramm ist davon nur am Rande die Rede.

In Wahrnehmung seiner oft beschworenen Verantwortung für den Frieden in der Welt müsste Deutschland, das auf Atomwaffen verzichtet hat, als Impuls- und Ideengeber handeln und neue Initiativen auf den Weg bringen, um die atomare Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle zu zentralen Anliegen der EU und der internationalen Politik zu machen. Nukleare Abrüstung muss bei den USA, der stärksten Nuklearmacht der Erde, und den anderen vier legalen Atommächten beginnen – ein zugegeben schwieriges Unternehmen. Aber nur dadurch kann der weiteren Verbreitung von Atomwaffen wirksam Einhalt geboten werden. Nur so lässt sich eine neue Rüstungsspirale verhindern. Mit anderen Worten: Die deutsche Präsidentschaft muss auf eine europäische Sicherheitspolitik hinarbeiten, die sich weltweit für Nichtverbreitung von Atomwaffen, Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt.

Im Übrigen könnte ein erster kleiner Schritt darin bestehen, mit den USA die Rückführung ihrer in Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, den Niederlanden und der Türkei verbliebenen Atomwaffen zu vereinbaren.

Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP, Vizevorsitzende der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament

Erschienen in: SO! Die Zeitung der Linken in Sachsen, Februar 2007

Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und 500 Millionen Menschen braucht eine klare soziale Ausrichtung und eine zukunftsfähige Verfassung: Sylvia-Yvonne Kaufmann zur deutschen Ratspräsidentschaft

Am 1. Januar 2007 übernahm Deutschland den Vorsitz in der Europäischen Union. Er ermöglicht es, Kurskorrekturen an der europäischen Politik vorzunehmen und in Europa die Weichen in eine zukunftsorientierte Richtung zu stellen. Das wäre auch bitter nötig, denn viele Menschen sehen die heutige EU als wirtschaftliche und soziale Bedrohung an. Während ihre einstige historische Rolle als Friedens- und europäisches Einigungsprojekt in den Hintergrund tritt, entpuppt sie sich als Liberalisierungs- und Deregulierungsgemeinschaft. Deshalb werden der weitere Verlust von Sozialleistungen, Stellenabbau sowie mehr Arbeitsplatzverlagerungen in EU-Länder mit niedrigen Lohnkosten befürchtet. Vor dem Hintergrund von 18,7 Millionen Arbeitslosen in Europa, von 72 Millionen Menschen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze sowie einer Kinderarmut von über 20 Prozent und gleichzeitig 2,5 Millionen Millionären sind diese Ängste verständlich.

Verantwortlich dafür ist die neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf grenzüberschreitendes Lohn-, Sozial- und Steuerdumping setzt. Die Sorgen und Nöte, die die Menschen tagtäglich umtreiben, spiegeln sich im 25-seitigen Programm der deutschen Präsidentschaft aber nicht adäquat wieder, obwohl dessen Grundlage das immerhin auf 18 Monate ausgerichtete Programm der drei aufeinander folgenden Präsidentschaften Deutschland, Portugal und Slowenien bildet. Es erinnert an einen Warenhauskatalog. Viele zentrale und durchaus wichtige Themen, wie eine gemeinsame Energiepolitik, Klimaschutz, Justiz und Inneres, Asyl- und Flüchtlingspolitik und vieles mehr werden zwar angesprochen, aber es fehlt eine überzeugende Prioritätensetzung.

Keine Verfassung ohne Stärkung der sozialen Dimension

Noch kürzlich hieß es, das „soziale Europa“ und die Überwindung der Krise um die EU-Verfassung stünden ganz oben auf der Agenda der deutschen Präsidentschaft. In der Tat gehört beides zusammen, denn das eine ist ohne das andere nicht zu haben: Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und 500 Millionen Menschen braucht eine klare soziale Ausrichtung und eine zukunftsfähige Verfassung. Doch der Aufgalopp der Großkoalitionäre währte nicht lange. Weder im Masterplan der Bundesregierung, noch in der Rede der Bundeskanzlerin zur Vorstellung des Präsidentschaftsprogramms vor dem Europaparlament findet sich das Projekt Sozialunion. Sie müsste die Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen, denn nur so können die soziale Dimension Europas und damit das „europäische Sozialmodell“ deutlich und vor allem nachhaltig gestärkt werden. Aber auch Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, mied in seiner Replik auf Angela Merkel den Begriff Sozialunion wie der Teufel das Weihwasser, obwohl er zutreffend anmerkte: „Die EU wird entweder die Sozialpolitik zu einem zentralen Element ihrer Politik machen, oder ihr Akzeptanzproblem wird größer“. Wenigstens machte er darauf aufmerksam, dass bei europäischen Gesetzgebungsvorhaben – wie dies im Übrigen auch in der Verfassung vorgesehen ist – künftig soziale Folgen wie zum Beispiel Beschäftigungseffekte systematisch abgeschätzt werden müssten.

Dass deutsche Politiker die Forderung nach Schaffung einer Sozialunion fallen lassen, ist auch deshalb peinlich, weil darüber bis heute in der europäischen Politik viel und heftig debattiert wird. So hat sich erst jüngst der konservative Ministerpräsident Luxemburgs Jean-Claude Juncker zu Wort gemeldet und zum wiederholten Mal die Bildung einer europäischen Sozialunion als „vordringlich wichtige“ Aufgabe bezeichnet – auch, um mit der Verfassung weiterzukommen. Er forderte einen „Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten“ und die Einführung eines „Grundeinkommens“ für alle Menschen in der EU. Die deutsche Ratspräsidentschaft, so Juncker, müsse „inhaltlich und nicht nur von der Melodie her“ daran arbeiten, ob „wir ein Europa der Arbeitnehmer, ein Europa der Solidarität“ wollen oder ob „wir weiter machen mit einem Europa, das den Eindruck erweckt, als ginge es die einfachen Menschen nichts mehr an.“

Klar ist: Unter den Zwängen der Globalisierung lässt sich der Sozialstaat nicht mehr allein national, sondern nur noch europäisch gestalten. Für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, für soziale Gerechtigkeit, für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse, für den Schutz bei Krankheit oder bei Verlust des Arbeitsplatzes müssen die Weichen deshalb gemeinsam, europäisch gestellt werden. Die Bürgerinnen und Bürger akzeptieren nur eine EU, die Wohlstand, Beschäftigung und eine lebenswerte Umwelt sichert. Dies zu erreichen, muss Priorität deutscher und europäischer Politik sein – und dafür ist ein neuer Gesellschaftsvertrag unabdingbar.

Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung gehören auf die Agenda

Besorgnis erregende Entwicklungen des vergangenen Jahres – wie das gigantische nukleare Umrüstungsprogramm der USA, der Atomtest Nordkoreas, Rüstungspläne in Japan oder das Hickhack um die atomaren Ambitionen Irans – verdeutlichen, dass die nukleare Bedrohung und in deren Folge das Wettrüsten dramatisch zunehmen. Vor daher sind konzertierte Aktionen im Rahmen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik das Gebot der Stunde, und zwar in Richtung Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle. Doch im deutschen Ratsprogramm ist davon nur am Rande die Rede.

In Wahrnehmung seiner oft beschworenen Verantwortung für den Frieden in der Welt müsste Deutschland, das auf Atomwaffen verzichtet hat, als Impuls- und Ideengeber handeln und neue Initiativen auf den Weg bringen, um die atomare Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle zu zentralen Anliegen der EU und der internationalen Politik zu machen. Nukleare Abrüstung muss bei den USA, der stärksten Nuklearmacht der Erde, und den anderen vier legalen Atommächten beginnen – ein zugegeben schwieriges Unternehmen. Aber nur dadurch kann der weiteren Verbreitung von Atomwaffen wirksam Einhalt geboten werden. Nur so lässt sich eine neue Rüstungsspirale verhindern. Mit anderen Worten: Die deutsche Präsidentschaft muss auf eine europäische Sicherheitspolitik hinarbeiten, die sich weltweit für Nichtverbreitung von Atomwaffen, Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt.

Im Übrigen könnte ein erster kleiner Schritt darin bestehen, mit den USA die Rückführung ihrer in Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, den Niederlanden und der Türkei verbliebenen Atomwaffen zu vereinbaren.

Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP, Vizevorsitzende der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament

Erschienen in: SO! Die Zeitung der Linken in Sachsen, Februar 2007