Quo vadis Europa? Nur eine soziale EU ist zukunftsfähig

Artikel in Neues Deutschland vom 22.9.2006

Vor 60 Jahren, am 19. September 1946, sprach sich Winston Churchill an der Züricher Universität für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ aus. Er knüpfte damit an paneuropäische Pläne zur Bildung eines föderalen Staatenbundes an, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg starken Auftrieb erfuhren. Schon August Bebel meinte, dass Kriege vermeidbar seien, wenn die Völker Europas in einer „großen Föderation“ vereinigt wären. Dem hielt Lenin entgegen, dass die Losung von den „Vereinigten Staaten von Europa“ unter imperialistischen Bedingungen reaktionär sei, ihre Realisierung aber durchaus möglich. Als einzige Partei in Deutschland hatte die SPD sie erstmals 1925 befürwortet. Churchill zielte 1946 auf einen Zusammenschluss der europäischen Staaten unter französischer und deutscher Führung – ohne Großbritannien und unter Ausschluss der Sowjetunion. Er sollte zugleich als Bollwerk gegen die „sowjetische Gefahr“ dienen. „Der erste Schritt hierzu“, so Churchill, „ist die Bildung des Europarats“.

Er wurde am 5. Mai 1949 mit zehn Mitgliedstaaten Realität und blieb wegen der Ost-West-Konfrontation bis 1989 auf Westeuropa beschränkt. Heute gehören ihm 46 Staaten an, seit 1996 auch Russland. Der Europarat versteht sich als Hüter der Menschenrechte, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Gesamteuropa. Er war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen integrationsbereiten Staaten und jenen, vor allem Großbritannien und die nordischen Länder, die nicht bereit waren, nationale Kompetenzen auf eine supranationale Organisation zu übertragen. Damit scheiterte die ursprüngliche Intention, die (west)europäische Integration über den Europarat voranzutreiben.

Als ihre eigentliche Geburtsstunde gilt daher der 9. Mai 1950, als der französische Außenminister Schuman die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zwischen Frankreich und der BRD vorschlug. Mit der EGKS, der auch Italien und die Benelux-Staaten beitraten, entstand ein supranationales Regelwerk für die damals wichtigsten Energieträger und -verbraucher Kohle und Stahl. An die Stelle jahrhundertealter Rivalitäten trat ein wirtschaftlicher Zusammenschluss als Grundstein für eine politische Gemeinschaft europäischer Staaten und Völker. Entscheidende Schritte hin zur heutigen EU mit 25 Mitgliedstaaten und 450 Millionen Menschen waren die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957, die Vollendung der Zoll- und Handelsunion in den 60er und 70er Jahren, die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) ab 1970 sowie 1993 die Einführung des Gemeinsamen Binnenmarkts mit den so genannten vier Grundfreiheiten („freier Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen“). Als Grundübel des Binnenmarktkonzepts erwies sich jedoch seine sozialpolitische Schieflage. Diese neoliberale Ausrichtung wurde in den 90er Jahren mit Währungsunion und Euro-Einführung in Beton gegossen. Eine ergänzende Sozialunion blieb außen vor. Alle vollmundigen Versprechen, dass nun Millionen Arbeitsplätze entstünden, erfüllten sich nicht. Aber die Konzerne fuhren – nicht zuletzt im Zuge der EU-Osterweiterung – Megagewinne ein. Arbeitslosigkeit und Armut erreichen seitdem Negativrekorde.

Vor diesem Hintergrund stellt die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden eine Zäsur dar. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich das „Nein“ in erster Linie gegen nationale Politik richtete. Es ist vielmehr die neoliberale Politik in der EU, die die anvisierte Transformation der einst von christlich-konservativen Politikern initiierten Wirtschaftsgemeinschaft in eine demokratische Union der Bürgerinnen und Bürger blockiert. Sie stürzte die EU in eine schwere Krise. Immer mehr Menschen erleben, dass „Europa“ nicht mehr für sie da ist. Akut ist zudem die Gefahr, dass die EU zu einer marktradikalen Freihandelszone de Luxe verkommt. Dies setzt letztlich auch die europäische Einigung aufs Spiel, für die es keine vernünftige Alternative gibt. Europa wächst sozial zusammen oder gar nicht. Dabei muss und kann die europäische Linke Motor sein. Luxemburgs Premier Juncker unterstrich zu Recht: „Wenn wir es nicht schaffen, in den nächsten 10 Jahren aus dieser höchst erfolgreichen wirtschaftspolitischen Konstruktion Europa auch eine sozialpolitisch erfolgreiche EU zu machen, inklusive die Massenarbeitslosigkeit in Europa abzubauen, dann wird Europa scheitern.“

* Die Autorin ist Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann*

Vor 60 Jahren, am 19. September 1946, sprach sich Winston Churchill an der Züricher Universität für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ aus. Er knüpfte damit an paneuropäische Pläne zur Bildung eines föderalen Staatenbundes an, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg starken Auftrieb erfuhren. Schon August Bebel meinte, dass Kriege vermeidbar seien, wenn die Völker Europas in einer „großen Föderation“ vereinigt wären. Dem hielt Lenin entgegen, dass die Losung von den „Vereinigten Staaten von Europa“ unter imperialistischen Bedingungen reaktionär sei, ihre Realisierung aber durchaus möglich. Als einzige Partei in Deutschland hatte die SPD sie erstmals 1925 befürwortet. Churchill zielte 1946 auf einen Zusammenschluss der europäischen Staaten unter französischer und deutscher Führung – ohne Großbritannien und unter Ausschluss der Sowjetunion. Er sollte zugleich als Bollwerk gegen die „sowjetische Gefahr“ dienen. „Der erste Schritt hierzu“, so Churchill, „ist die Bildung des Europarats“.

Er wurde am 5. Mai 1949 mit zehn Mitgliedstaaten Realität und blieb wegen der Ost-West-Konfrontation bis 1989 auf Westeuropa beschränkt. Heute gehören ihm 46 Staaten an, seit 1996 auch Russland. Der Europarat versteht sich als Hüter der Menschenrechte, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Gesamteuropa. Er war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen integrationsbereiten Staaten und jenen, vor allem Großbritannien und die nordischen Länder, die nicht bereit waren, nationale Kompetenzen auf eine supranationale Organisation zu übertragen. Damit scheiterte die ursprüngliche Intention, die (west)europäische Integration über den Europarat voranzutreiben.

Als ihre eigentliche Geburtsstunde gilt daher der 9. Mai 1950, als der französische Außenminister Schuman die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zwischen Frankreich und der BRD vorschlug. Mit der EGKS, der auch Italien und die Benelux-Staaten beitraten, entstand ein supranationales Regelwerk für die damals wichtigsten Energieträger und -verbraucher Kohle und Stahl. An die Stelle jahrhundertealter Rivalitäten trat ein wirtschaftlicher Zusammenschluss als Grundstein für eine politische Gemeinschaft europäischer Staaten und Völker. Entscheidende Schritte hin zur heutigen EU mit 25 Mitgliedstaaten und 450 Millionen Menschen waren die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957, die Vollendung der Zoll- und Handelsunion in den 60er und 70er Jahren, die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) ab 1970 sowie 1993 die Einführung des Gemeinsamen Binnenmarkts mit den so genannten vier Grundfreiheiten („freier Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen“). Als Grundübel des Binnenmarktkonzepts erwies sich jedoch seine sozialpolitische Schieflage. Diese neoliberale Ausrichtung wurde in den 90er Jahren mit Währungsunion und Euro-Einführung in Beton gegossen. Eine ergänzende Sozialunion blieb außen vor. Alle vollmundigen Versprechen, dass nun Millionen Arbeitsplätze entstünden, erfüllten sich nicht. Aber die Konzerne fuhren – nicht zuletzt im Zuge der EU-Osterweiterung – Megagewinne ein. Arbeitslosigkeit und Armut erreichen seitdem Negativrekorde.

Vor diesem Hintergrund stellt die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden eine Zäsur dar. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich das „Nein“ in erster Linie gegen nationale Politik richtete. Es ist vielmehr die neoliberale Politik in der EU, die die anvisierte Transformation der einst von christlich-konservativen Politikern initiierten Wirtschaftsgemeinschaft in eine demokratische Union der Bürgerinnen und Bürger blockiert. Sie stürzte die EU in eine schwere Krise. Immer mehr Menschen erleben, dass „Europa“ nicht mehr für sie da ist. Akut ist zudem die Gefahr, dass die EU zu einer marktradikalen Freihandelszone de Luxe verkommt. Dies setzt letztlich auch die europäische Einigung aufs Spiel, für die es keine vernünftige Alternative gibt. Europa wächst sozial zusammen oder gar nicht. Dabei muss und kann die europäische Linke Motor sein. Luxemburgs Premier Juncker unterstrich zu Recht: „Wenn wir es nicht schaffen, in den nächsten 10 Jahren aus dieser höchst erfolgreichen wirtschaftspolitischen Konstruktion Europa auch eine sozialpolitisch erfolgreiche EU zu machen, inklusive die Massenarbeitslosigkeit in Europa abzubauen, dann wird Europa scheitern.“

* Die Autorin ist Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.