Die Rückkehr der Taliban

In der Rubrik BRÜSSELER SPITZEN der Tageszeitung NEUES DEUTSCHLAND schrieb der Europaabgeordnete Andrè Brie zur Entwicklung in Afghanistan.

Die internationalen Medien geben sich aufgeregt. Von einer »alarmierenden Entwicklung« in Afghanistan ist die Rede, von einer »Unterschätzung der Gefahr« und von einer »akuten Bedrohung durch gewaltbereite Kräfte«. Was höchstens am Rande erwähnt wird: Die lange bekannten Probleme wurden bewusst ignoriert und durch die faktische Nicht-Politik der internationalen Gemeinschaft verschärft.
Unbestritten haben Gewalt, Chaos, wirtschaftliche Deformationen und erneute kulturelle Zerstörungen eine neue Dimension erreicht. Fast täglich sind Opfer zu beklagen. Der Aufschrei im Westen war besonders groß, als kürzlich 14 britische Soldaten starben. Der Tod von Zivilisten, von Frauen und Kindern, die massive Verdrängung von Mädchen aus den Schulen, die generelle Entwicklung in Afghanistan interessieren dagegen kaum.

Gewalt, religiöser Fundamentalismus und nicht zuletzt das Wiedererstarken der Taliban speisen sich zum einen aus der arroganten und kolonialistisch geprägten Militärpolitik der USA, zum anderen aus der dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Situation. 2,5 Millionen Afghanen sind akut von Hunger bedroht. Auch, weil der Mohnanbau zur Rauschgiftproduktion um Vieles lukrativer ist als die Aussaat von Getreide. Gerade in den ärmsten Regionen ist die Opiumherstellung oft die einzige Einnahmequelle.

Was ist schief gelaufen in Afghanistan? Abgesehen von der Besatzungspolitik der USA, die immer mehr Widerstand hervorruft und längst von großen Teilen der Bevölkerung mit jener der Sowjetarmee in den 80er Jahren verglichen wird, fehlte – und fehlt – vor allem ein Konzept für Wiederaufbau und Entwicklung. Wie mit dem zerstörten Land, in dem das gestürzte Taliban-Regime ein Machtvakuum hinterließ, umzugehen ist, wurde auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001 im Schnelldurchlauf beraten und beschlossen. Von Bekämpfung von Unterentwicklung und Armut war die Rede, von Demokratisierung und Aufbau eines funktionsfähigen Staatswesens.

Ja, es gibt heute eine Regierung. Aber vom Kabinett Karsai ist praktisch nichts zu hören, oder nur davon, dass der Präsident die mächtigen regionalen Warlords nicht entwaffnet, sondern sie in die Regierung holt. Die allmächtige Korruption reicht nicht nur bis in die höchsten Staatsspitzen, sondern geht vielfach von ihr aus. Ja, es gibt ein Parlament, doch in dem spielen Kriegsverbrecher, Opium-, Waffen- und Menschenhändler eine wesentliche Rolle. Ja, es gibt internationale Unterstützung. Aber die Hilfe erreicht oft nicht die Bedürftigen – weil die Bedingungen des Landes und der Regionen ignoriert werden und insbesondere, weil sie oft den imperialen und militärischen Zielen der USA untergeordnet wird.

Die Warnungen, Afghanistan könnte ins Chaos fallen, scheinen sich nun zu bewahrheiten. Eine Folge ist der Rückgriff vieler Menschen auf den 2001 noch völlig diskreditieren religiösen Fundamentalismus. Für nicht wenige Afghanen scheinen die »geordneten Zustände« unter den Taliban besser als die gegenwärtige Situation. Dabei wird in Kauf genommen, dass selbst die wenigen Errungenschaften, wie der Aufbau eines Schulsystems, in dem auch Mädchen Chancen auf Bildung haben, zerstört werden. Allein in den vergangenen zwölf Monaten wurden 150 Schulen niedergebrannt.

Trotzdem hat Afghanistan eine Chance; und noch gibt es die politischen Kräfte im Lande, die sie nutzen könnten. Wenn sich die Weltgemeinschaft nicht abwendet, wenn die Unterstützung sich endlich auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung konzentriert, wenn Hilfe bei jenen ankommt, die sie brauchen, die mit den USA verbündeten Warlords entwaffnet werden und die schwache, aber sehr aktive Zivilgesellschaft gefördert wird. Diese Prioritäten sollte auch die EU setzen.